Über Rußland stand immerfort eine brandrote Wolke, in der der Donner des Namens Hindenburg grollte, und uns im Westen blieb nichts als Lauern und Warten und Wachen und Gräbergraben, ohne daß wir den Tod von Angesicht sahen, der heimtückisch bei Tag und Nacht in unsere Reihen hieb. Im Osten schritten unsre Sturmkolonnen über Täler und Höhen, und wir lagen wie Maulwürfe unter der Erde und riefen das Hurra zu ihren Siegen.
Als wir an die Ostfront kamen, waren die großen Kämpfe der Masurenschlacht längst zum Stellungskriege erstarrt. Unsere neue Kompanie lag seit Wochen eingegraben am Waldrand einer breiten Sumpfwiese, durch die ein träger Bach, die Kolnizanka, durch Sand und Morast zum Kolnosee schlich. Jenseits des faulen Wassers war wieder Wiese, Sand und Wald, und nur ein paar helle Streifen drüben zeigten, wo der Feind hinter seinen Sandwällen hockte. Ein Stacheldrahthindernis zog sich an unsrer Front entlang und die Nacht hindurch kreiste durch das Drahtgewirr der elektrische Strom, der von Augustowo her in mächtigen Kabeln gespeist wurde. »Draht!« knurrte Leutnant Wurche verächtlich, als wir in der Mainacht nach unsrer Ankunft zum erstenmal die Kompaniefront abgingen, und schlug spöttisch mit einer Gerte gegen die glatten Schutzdrähte am Horchpostendurchlaß. Und so ging er die erste Nacht an dem grauen Verhau hinauf und hinunter wie ein gefangener Tiger an seinem Käfiggitter.
Unsere Grabenabschnitte grenzten aneinander, und wir blieben Nachbarn als Zugführer des zweiten und dritten Zuges oder, wie er sagte, als »Obernachtwächter der Wach- und Schließgesellschaft im Osten«. Die russischen Gräben lagen ein paar hundert Meter entfernt, so daß wir uns selbst am hellen Tage frei im Walde hinter unsrer Stellung bewegen konnten. Die russische Artillerie streute wohl dann und wann mit Schrapnells und Granaten unsre Gräben ab, ein Volltreffer schlug sogar einmal meinen Unterstand, als ich gerade die Tür aufmachte, zu einem Scherbenhaufen zusammen, aber alles das ging immer rasch wie ein Mairegen, eine »Husche«, vorüber, der Franzose hatte dies Spiel viel besser verstanden, und im ganzen nahmen wir »Iwan den Schrecklichen«, wie der Russe bei uns hieß, nicht ganz ernst. Wir haben es später gelernt, ihn zu achten, aber einstweilen ließen wir uns von ihm unsre »Sommerfrische in den Augustower Wäldern« nicht stören. Die Myriaden von Schnaken, die Wälder und Sümpfe ausbrüteten, waren uns lästiger als die Russen hinter ihrem Draht.
Nur wenn es dämmerte und das rote, blaue, bunte Blühen von Fleischblumen, Vergißmeinnicht, Kalla und Federnelken auf der Sumpfwiese draußen im Glanz der Sterne und Leuchtraketen fahl und farblos wurde, trat aus dem dunklen Walde drüben das Abenteuer wie ein schönes Wild und schaute zu uns herüber, die wir an der Brustwehr unsrer dunklen Gräben standen und lauschten. Jede Nacht ging von der Kompanie eine Offizierspatrouille ins Vorgelände, und wir drei Leutnants, ein Mecklenburger, ein Schlesier und ein Thüringer, hatten uns in diesen Dienst zu teilen. Zuweilen gingen wir auch zu zweit mit unsern Leuten hinaus, wenn wir einen besonders guten Fang machen zu können glaubten. Meist aber ging nur einer als Führer. Und es war dann ein seltsames Gefühl, wenn man lauschend an der Brustwehr stand, und draußen im Dunkel knatterten plötzlich russische und deutsche Gewehre oder das dumpfe Krachen detonierender Handgranaten wurde laut. Das Warten und Wiedersehen solcher Stunden, von denen man nie sprach, läßt Menschen ineinanderwachsen wie Bäume. Viele Worte freilich wurden nie gemacht, und es blieb bei einem Scherz oder Handschlag, wenn der andere hinausging oder wiederkam.
Wie hätten junge Herzen nicht ineinanderwachsen sollen in diesen Frühlingstagen und Frühlingsnächten, in denen sie gemeinsam immer inniger vertraut wurden mit Erde und Luft und Wasser, mit den linden Stunden der Nacht und mit den hellen Stunden der blühenden Tage! Wie leise Sonnenwellen kommen die Erinnerungen an unsern ersten Kriegsfrühling in den Augustower Wäldern zu mir, wo ich auch sein mag. Die linde, junge Gütigkeit, die in ein paar hellen Grauaugen lebte und frisch und warm aus einer lebendigen Menschenstimme klang, brach wie ein helles, starkes Licht durch die Fenster meiner Seele, durchsonnend, was dumpfig war, durchwärmend, was kühl und voll Schatten war. Wie deutlich erhöre ich heute und immer, in die Vergangenheit hineinhorchend, den raschen Schritt des Freundes. Ich sehe ihn schlank und frei durch die Tür in mein helles Fichtenhäuschen treten und sehe eine junge lebendige Hand Blumen unter das kleine Bild meines gefallenen Bruders legen mit einer frischen, herzlichen Bewegung, in der doch die leise, gute Scheu der Jugend vor der Entschleierung des Herzens zu spüren ist! Und oft ist mir, ich könne den lieben Gast halten und mit ihm von dem bunten Erleben der hellen Zeit plaudern, in der selbst der Ernst des Krieges sich in Spiel und Freude auflösen wollte. Weißt du noch, Gesell, wie wir über meinen ersten Gefangenen lachten? Im Sumpfbach vor unserm Graben, wo vom letzten Angriff her noch über dreißig tote Russen lagen, war ich auf nächtlichem Patrouillengang ahnungslos auf ihn zugegangen, um dem vermeintlich Toten das Gewehr zu nehmen. Aber es war kein Toter, sondern ein fixer und pfiffiger Moskauer Junge, der zu einer vor uns im Dunkel herflüchtenden Russenpatrouille gehörte. Ohne es zu wissen, hatten wir ihn von seinen Kameraden abgeschnitten, und er wollte sich uns noch entziehen, indem er sich mitten unter die Toten hockte und in Anschlagstellung wie sie erstarrte. Als ich sein Gewehr fassen wollte, schlug er auf mich an, und mich warf der Schreck fast um, als der Tote plötzlich die Büchse gegen mich hob. Gerade rechtzeitig noch rückte ich ihm meine kleine Mauserpistole an die Stirn, daß er die Waffe wegwarf und uns geduldig nachtrollte. Damit doch auch ein anderer etwas von dem Schrecken abbekäme, schickte ich ihn samt seinem Gewehr, ohne anzuklopfen, in den Unterstand des Leutnants vom ersten Zuge, der sorglos bei der Flasche saß, aber der Mecklenburger ließ sich nicht verblüffen, sondern hob nach dem verlegen grinsenden Burschen das volle Glas, »Prosit, Iwan –!« Und Iwan taute auf und besah sich die Postkarten unsrer Leute, die den holzverkleideten Graben schmückten, blieb tiefsinnig vor einem bunten Hindenburgbilde stehen und sagte ehrerbietig, »Ah – Chindenburrg!«, indem er mit unermüdlich kreisenden Händen um sein Russenhaupt fuhr, um uns das imaginäre Volumen eines fabelhaften Feldherrnkopfes zu veranschaulichen. Darauf von unsern lachenden Leuten nach seinem Landsmann Nikolajewitsch befragt, preßte er den Kopf in die Hände wie ein Schwerkranker und brach in einen Husten aus, der eine höchst schauderhafte Vorstellung von dem Zustand seines Generalissimus gab ...
Und weißt du noch, wie die russische Patrouille uns bei Nacht und Nebel ein schön bemaltes Plakat mit der Inschrift »Italiani – auch Krieg!« vor die Drahtverhaue pflanzte? Und wie unsre Leute dann in der nächsten Nacht ein noch schöneres Schild mit der Antwort »Italiani – auch Prügel!« den Russen in eins ihrer eigens zu diesem Zweck gesäuberten Horchpostenlöcher pflanzten, daß sie den ganzen Tag über wütend danach schossen?
Weißt du noch, wie wir im Unterstande zusammensaßen, während die russische Artillerie mit grobem Geschütz unsern Graben absuchte? Wie unter dem Luftdruck der in der Nähe krepierenden schwerkalibrigen Geschosse die zwei- und dreimal wieder angezündete Lampe dreimal auslosch? Und wie wir zu viert im Dunkel saßen, und unsre Zigaretten warfen einen Glimmerschein über die Gesichter, und wir lachten, »Iwan bläst uns die Lampe aus!«?
Weißt du das alles noch, Lieber? Und weißt du auch noch, wie du einen mächtigen bombensichren Unterstand für zwei Gruppen deines Zuges aus Hunderten von schweren Fichtenstämmen und Bergen von Sand gebaut hattest? Und wie wir dann dem Neubau die sinnige Türinschrift gaben: »Selig, wer sich vor der Welt ohne Haß verschließt«?
Und weißt du noch, wie du singend vor der zum Bad nach den Nettawiesen marschierenden Kompanie herzogst und wie du mit uns ganze Nachmittage im Wasser vertolltest? Weißt du das noch, du Wandervogel, der den Widerwilligsten zum Mitsingen zwang und den Wasserscheusten im Wasser zum Lachen brachte?
Weißt du noch, wie das faule Holz im Walde um unsre dunklen Gräben leuchtete? Und wie Myriaden von Junikäfern die Sumpfwiese zwischen uns und dem Feinde nächtlicherweile zum Märchenland machten? Und wie aus dem Drahthindernis die blauen Funken ins nasse Gras hinüber- und hinunterzuckten wie die schillernden Schuppen einer glitzernden Schlange, die unermüdlich kreisend durch das graue Verhau lief, immer bereit zum tödlichen Bisse?
Weißt du noch, wie wir im hellen Sand der sonnigen Waldlichtung hinter unsern Gräben Zirkel ritten? Wie du reiten lernen wolltest wie ein Kosak; denn das seien die sieben ritterlichen Künste der neuen deutschen Jugend: Singen, Wandern, Turnen, Schwimmen, Fechten, Tanzen und Reiten –?
Und war doch ebensoviel Ernst in deiner Freude wie Freude in deinem Ernst! Auch was du mit Lachen triebst, war mehr als Spiel. Ein Stück Leben war alles, was du sprachst und tatst, und ein heller, klarer, gesammelter Menschenwille schmiedete alle Stücke zu einem werdenden Kunstwerk zusammen.
Wenn der junge Führer mit seinen Leuten auf nächtliche Streife auszog, so arbeitete ein frischer, beherrschter Wille unermüdlich und unnachgiebig an den Menschen, die er führte. Wollten sie ihm, im Dunkel plötzlich vom Feuer russischer Gewehre überfallen, aus der Hand geraten, so zwang er sie wieder bis auf den Punkt zurück, den sie eigenmächtig verlassen hatten. Aber er selbst ging immer als erster voraus und kroch als letzter zurück.
Als die unsicheren und baufälligen Unterstände seines Zuges durch neue ersetzt wurden, ließ er die Arbeit an seinem eigenen Unterstand bis zuletzt liegen.
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