Es erschien ihm sonderbar, wie dieser schweigsame, verdüsterte Mensch sich ihm, dem flüchtig Bekannten, mit einem Male aufschloß, und er konnte sich dieser unerwarteten Offenheit gegenüber einer peinlichen Verlegenheit nicht erwehren. Auch hatte er nicht den Eindruck, daß er diese Geständnisse einer besonderen Sympathie Heinrichs verdankte, sondern spürte darin eher einen Mangel an Takt, eine gewisse Unfähigkeit der Selbstbeherrschung, irgend etwas wofür ihm das Wort »schlechte Erziehung«, das er schon irgend einmal war es nicht von Hofrat Wilt? auf Heinrich anwenden gehört hatte, sehr bezeichnend erschien. Sie gingen eben am Burgtor vorüber. Ein sternenloser Himmel lag über der stummen Stadt. Durch die Bäume des Volksgartens rauschte es leise, irgendwoher drang das Geräusch eines rollenden Wagens, der sich entfernte.

Da Heinrich wieder schwieg, blieb Georg stehen und sagte in möglichst freundlichem Tone: »Nun muß ich mich doch von Ihnen verabschieden, lieber Herr Bermann.«

»O«, rief Heinrich, »jetzt merk ich erst, daß Sie mich ein ganzes Stück begleitet haben und ich erzähl Ihnen oder vielmehr mir in Ihrer Gegenwart, taktloserweise lauter Geschichten, die Sie nicht im geringsten interessieren können ... verzeihen Sie.«

»Was gibts da zu verzeihen«, erwiderte Georg leise, kam sich gegenüber dieser Selbstanklage Heinrichs ein wenig wie ertappt vor und reichte ihm die Hand. Heinrich nahm sie, sagte »auf Wiedersehen, lieber Baron«, und als hielte er plötzlich jedes weitere Wort für eine Zudringlichkeit, entfernte er sich eilig.

Georg sah ihm nach, mit Teilnahme und Widerwillen zugleich, und eine plötzliche freie, beinahe glückliche Stimmung kam über ihn, in der er sich jung, sorgenlos und zu der schönsten Zukunft bestimmt erschien. Er freute sich auf den Winter, der vor der Türe war. Alles mögliche stand in Aussicht. Arbeit, Unterhaltung, Zärtlichkeit, und es war im Grunde gleichgültig, von wo alle diese Freuden kommen mochten. Bei der Oper zögerte er einen Augenblick. Wenn er durch die Paulanergasse nach Hause ging, so bedeutete es keinen beträchtlichen Umweg. Er lächelte in der Erinnerung an Fensterpromenaden früherer Jahre. Nicht fern von hier lag die Straße, wo er manche Nacht zu einem Fenster aufgeblickt hatte, hinter dessen Vorhängen sich Marianne zu zeigen pflegte, wenn ihr Gatte eingeschlafen war. Diese Frau, die stets mit Gefahren spielte, an deren Ernst sie selbst nicht glaubte, war Georg nie wirklich wert gewesen ... Eine andre Erinnerung, ferner als diese, war um viel holdseliger. In Florenz, als siebzehnjähriger Jüngling war er manche Nacht vor dem Fenster eines schönen Mädchens auf und abgegangen, des ersten weiblichen Wesens, das sich ihm, dem Unberührten, als Jungfrau gegeben hatte. Und er dachte der Stunde, an der er die Geliebte am Arm des Bräutigams zum Altar hatte schreiten sehen, wo der Priester die Ehe einsegnen sollte, des Blicks, den sie unter dem weißen Schleier zu ewigem Abschied ihm herüber gesandt hatte ... Er war am Ziele. Nur an den beiden Enden der kurzen Gasse brannten noch die Laternen, so daß er dem Hause gegenüber völlig im Dunkel stand. Das Fenster von Annas Zimmer war offen, und wie am Nachmittag bewegten die zusammengesteckten Tüllvorhänge sich leise im Wind. Dahinter war es ganz dunkel. Eine sanfte Zärtlichkeit regte sich in Georg. Von allen Wesen, die jemals ihre Neigung ihm nicht verhehlt hatten, schien Anna ihm die beste und reinste. Auch war sie wohl die erste, die seinen künstlerischen Bestrebungen Teilnahme entgegenbrachte, eine echtere jedenfalls als Marianne, der die Tränen über die Wangen gerollt waren, was immer er ihr auf dem Klavier vorspielen mochte; eine tiefre auch als Else Ehrenberg, die sich ja doch nur das stolze Bewußtsein sichern wollte, als erste sein Talent erkannt zu haben. Und wenn irgend eine, so war Anna dazu geschaffen, seinem Hang zur Verspieltheit und zur Nachlässigkeit entgegenzuwirken, ihn zu zielbewußter und erwerbbringender Tätigkeit anzuhalten. Schon im letzten Winter hatte er daran gedacht, sich um eine Stelle an einer deutschen Opernbühne als Kapellmeister oder Korrepetitor umzusehen; bei Ehrenbergs hatte er flüchtig von seinen Absichten gesprochen, die nicht sehr ernst genommen wurden, und Frau Ehrenberg, mütterlich und weltklug, hatte ihm geraten doch lieber eine Tournee als Komponist und Dirigent durch die Vereinigten Staaten zu unternehmen, worauf Else vorlaut hinzugefügt hatte: »Und eine amerikanische Erbin wär auch nicht zu verachten.« Während er sich dieses Gesprächs erinnerte, behagte er sich sehr in der Idee, ein bißchen in der Welt herumzuabenteuern, wünschte sich, fremde Städte und Menschen kennen zu lernen, irgendwo im Weiten allerlei Liebe und Ruhm zu gewinnen, und fand am Ende, daß seine Existenz im ganzen viel zu ruhig und einförmig dahinflösse.

Längst, ohne innerlich von Anna Abschied genommen zu haben, hatte er die Paulanergasse verlassen und bald war er zu Hause. Als er ins Speisezimmer trat, sah er, daß aus dem Zimmer Felicians Licht schimmerte.

»Guten Abend, Felician«, rief er laut.

Die Türe wurde geöffnet, und Felician, noch völlig angekleidet, trat heraus.

Die Brüder reichten sich die Hände.

»Du kommst auch erst jetzt nach Hause?« sagte Felician. »Ich habe gedacht, du schläfst schon lang.« Während er sprach, sah er, wie das seine Art war, an ihm vorbei und neigte den Kopf nach der rechten Seite.