Selbst, daß Anna die Geliebte jenes Menschen gewesen wäre. Aber innerhalb des Unbehagens, das er bei diesem Gedanken empfand, regte sich leise und kaum bewußt der Wunsch in ihm, seine Befürchtung bestätigt zu hören. Denn wie leicht und verantwortungslos ließ dies Abenteuer sich an, wenn Anna schon einem andern gehört hatte, eh sie die Seine wurde.
»Ich will dir die ganze Geschichte erzählen«, sagte Anna endlich. »Sie ist wirklich nicht so schrecklich.«
»Also?« fragte Georg, seltsam gespannt.
»Einmal nach der Stunde«, begann Anna zögernd, »hat er mir galant in die Jacke hineingeholfen. Und plötzlich hat er mich an sich gezogen und mich umarmt und geküßt.«
»Und du ...?«
»Ich ... ich war ganz berauscht.«
»Berauscht ...«
»Ja, es war etwas Unbeschreibliches. Er hat mich auf die Stirn geküßt und auf den Mund und aufs Haar ... und dann hat er meine Hand genommen und hat allerlei Worte gemurmelt, die ich gar nicht recht gehört hab ...«
»Und ...«
»Und dann ... dann waren Stimmen daneben ... er hat meine Hand losgelassen ... und es war aus.«
»Aus?«
»Ja, aus. Selbstverständlich war es aus.«
»Gar so selbstverständlich find ich das eigentlich nicht. Du hast ihn doch wiedergesehen.«
»Freilich, ich hab ja weiter bei ihm gelernt.«
»Und ...?«
»Ich sag dir doch, es war aus ... vollkommen, als wär überhaupt nie was gewesen.«
Georg wunderte sich, daß er sich beruhigt fühlte. »Und er hat nie wieder den Versuch gemacht?« fragte er.
»Nie wieder. Es wäre auch lächerlich gewesen. Und da er sehr klug war, hat er das selbst ganz gut gewußt. Vorher, es ist ja wahr, hatt ich ihn sehr geliebt. Aber nach diesem Vorfall war er nichts andres mehr für mich, als mein alter Lehrer. Gewissermaßen sogar älter, als er in Wirklichkeit war. Ich weiß nicht, ob du das so ganz verstehen kannst. Es war, als ob er den ganzen Rest seiner Jugend verschwendet hätte in jenem Augenblick.«
»Ich verstehe es ganz gut«, sagte Georg. Er glaubte ihr und liebte sie mehr als früher. Sie traten in die Kirche. Es war fast dunkel in dem weiten Raum. Nur vor einem Seitenaltar brannten trübe Kerzen, und drüben, hinter einer kleinen Heiligenstatue, schimmerte ein armes Licht. Ein breiter Strom von Weihrauchduft floß zwischen Wölbung und Steinfliesen hin. Der Meßner ging umher und klapperte leise mit den Schlüsseln. In den Bänken rückwärts, regungslos, dämmerten Gestalten. Langsam schritt Georg mit Anna vorwärts und fühlte sich wie ein junger Gatte auf Reisen, der mit seiner jungen Frau eine Kirche besichtigt.
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