Er sagte es Anna. Sie nickte nur. »Es wär aber noch viel schöner«, flüsterte Georg, während sie eng aneinander geschmiegt vor der Kanzel standen, »wenn man wirklich miteinander irgendwo in der Fremde wäre ...«

Sie sah ihn an, wie beglückt und doch wie fragend; und er erschrak über seine eigenen Worte. Wenn Anna sie als ernsthafte Aufforderung oder gar als eine Art von Werbung aufgefaßt hätte? War er nicht verpflichtet sie aufzuklären, daß sie nicht so gemeint waren? ... Ein Gespräch fiel ihm ein, von neulich, als sie an einem windig-regnerischen Tag unter dem Schirm eingehängt über die Linie hinaus gegen Schönbrunn spaziert waren. Er hatte ihr den Vorschlag gemacht, mit ihm in die Stadt zu fahren und in irgend einem abgeschiedenen Gasthauszimmer mit ihm zu nachtmahlen; sie mit jener Frostigkeit, in der ihr ganzes Wesen manchmal erstarrte, hatte darauf erwidert: »für solche Sachen bin ich nicht.« Er hatte nicht weiter in sie gedrungen. Doch eine Viertelstunde später, allerdings im Lauf einer Unterhaltung über Georgs Lebensführung, aber vieldeutig lächelnd hatte sie die Worte zu ihm gesprochen: »Du hast keine Initiative, Georg.« Und in diesem Augenblick war ihm plötzlich gewesen, als täten sich Untiefen ihrer Seele auf, niemals vermutete und gefährliche, vor denen es gut war, sich in acht zu nehmen. Daran mußte er jetzt wieder denken. Was mochte in ihr denn vorgehen? ... Was wünschte sie und worauf war sie gefaßt? ... Und was wünschte, was ahnte er selbst? Das Leben war ja so unberechenbar. War es nicht sehr gut möglich, daß er wirklich einmal mir ihr draußen in der Welt herumreisen, eine Zeit des Glücks mit ihr durchleben ... und endlich von ihr scheiden würde, wie er von mancher andern geschieden war? Doch wenn er an das Ende dachte, das jedenfalls kommen mußte, ob es nun der Tod bringen mochte oder das Leben selbst, so fühlte er es wie ein gelindes Weh im Herzen ... Noch immer schwieg sie. Fand sie wieder, daß es ihm an Initiative fehlte? ... Oder dachte sie vielleicht: Es wird mir ja doch gelingen, ich werde seine Frau sein ...?

Da fühlte er ihre Hand ganz leise über die seine streichen, mit einer ihm wie neuen, sehr wohltuenden Zärtlichkeit. »Du, Georg«, sagte sie.

»Was denn?« fragte er.

»Wenn ich fromm wäre«, erwiderte sie, »möcht ich jetzt um was beten.«

»Um was?« fragte Georg beinahe ängstlich.

»Daß was aus dir wird, Georg. Was sehr Bedeutendes! Ein wirklicher, ein großer Künstler.«

Unwillkürlich blickte er zu Boden, wie in Beschämung, daß ihre Gedanken um soviel reinere Wege gegangen waren als die seinen.

Ein Bettler hielt den dicken, grünen Vorhang offen, Georg gab dem Mann ein Geldstück; sie waren im Freien. Straßenlichter glänzten auf, Geräusche von Wagen und Rolläden waren nah, Georg fühlte, wie ein feiner Schleier zerriß, den der Kirchendämmer um ihn und sie gewoben hatte, und in befreitem Ton schlug er eine kleine Spazierfahrt vor. Anna war gern einverstanden. In einem offenen Fiaker, dessen Dach sie über sich aufspannen ließen, fuhren sie die Straße hinab, ließen sich um den Ring führen, ohne viel von Gebäuden und Gärten zu sehen, sprachen kein Wort und schmiegten sich enger aneinander. Sie fühlten jeder die eigne und des andern Ungeduld und wußten, daß es kein Zurück mehr gab.

In der Nähe von Annas Wohnung sagte Georg: »Wie schade, daß du schon nach Hause mußt.«

Sie zuckte die Achseln und lächelte sonderbar. Die Untiefen, dachte Georg wieder, aber ohne Angst, heiter beinahe. Eh der Wagen an der Ecke hielt, verabredeten sie ein Rendezvous für den nächsten Vormittag, im Schwarzenberggarten, dann stiegen sie aus. Anna eilte nach Hause, und Georg bummelte langsam gegen die Stadt zu.

Er überlegte, ob er ins Kaffeehaus gehen sollte. Er hatte keine rechte Lust dazu. Bermann blieb heute wohl bei Ehrenbergs zum Souper, auf Leo Golowskis Kommen war nur selten zu rechnen; und die andern jungen Leute, meist jüdische Literaten, die Georg in der letzten Zeit flüchtig kennen gelernt hatte, lockten ihn nicht eben an, wenn er auch manche von ihnen nicht uninteressant gefunden hatte. Im ganzen fand er den Ton der jungen Leute untereinander bald zu intim, bald zu fremd, bald zu witzelnd, bald zu pathetisch; keiner schien sich dem andern, kaum einer sich selbst mit Unbefangenheit zu geben. Heinrich hatte übrigens neulich erklärt, er wollte mit dem ganzen Kreis nichts mehr zu tun haben, der ihm seit seinen Erfolgen durchaus gehässig gesinnt sei. Georg hielt es allerdings für möglich, daß Heinrich in seiner eiteln und hypochondrischen Art Feindseligkeiten und Verfolgungen auch dort witterte, wo vielleicht nur Gleichgültigkeit oder Antipathie vorhanden waren.