Der Weg nach Wigan Pier (German Edition)

Inhalt
Titelei
Impressum / Copyright
Erster Teil
I
II
III
IV
V
VI
VII
Zweiter Teil
VIII
IX
X
XI
XII
XIII
Nachwort
Autorenbiographie
Mehr Informationen
George Orwell
Der Weg
nach Wigan Pier
Aus dem Englischen
und mit
einem Nachwort von
Manfred Papst

Die Originalausgabe
erschien 1937 in London
unter dem Titel ›The Road to Wigan Pier‹
Copyright © by The Estate of
the late Sonia Brownell Orwell
Umschlagzeichnung von
Tomi Ungerer
Alle deutschen Rechte vorbehalten
Copyright © 2012
Diogenes Verlag AG Zürich
www.diogenes.ch
ISBN Buchausgabe 978 3 257 21000 2 (5. Auflage)
ISBN E-Book 978 3 257 60251 7
ERSTER TEIL
I
Das erste, was man am Morgen hörte, war das Klappern der Holzschuhe von Fabrikarbeiterinnen auf dem Kopfsteinpflaster. Noch früher gingen vermutlich die Fabriksirenen, aber dann war ich noch nicht wach.
Normalerweise waren wir zu viert im Schlafzimmer; das war ein scheußlicher Ort, mit dem schmutzigen und provisorischen Aussehen von Zimmern, die nicht zu ihrem eigentlichen Zweck gebraucht werden. Vor Jahren war das Haus ein gewöhnliches Wohnhaus gewesen, und als die Brookers es übernommen und zu einem Kuttelngeschäft und einer Pension umgebaut hatten, hatten sie einige der nutzloseren Möbelstücke geerbt und nie die Energie aufgebracht, sie wegzuschaffen. Wir schliefen deshalb in einem Raum, dem man das ehemalige Wohnzimmer noch ansah. Von der Decke hing ein Glasleuchter, auf dem der Staub so dicht lag, daß er wie ein Pelz aussah. Eine Wand wurde fast vollständig verdeckt von einem riesigen, gräßlichen Unding zwischen Garderobe und Büffet, mit einer Menge Schnitzereien, kleinen Schubladen und Streifen von Spiegelglas. Daneben gab es einen einstmals prunkvollen Teppich mit den Spüleimerringen vieler Jahre, zwei piekfeine Stühle mit geplatzten Sitzen und einen dieser altmodischen roßhaargepolsterten Sessel, von denen man herunterrutscht, sobald man sich hinzusetzen versucht. Zwischen dieses Gerümpel hatte man noch vier schäbige Betten gequetscht, und so war der Raum zu einem Schlafzimmer geworden.
Mein Bett stand in der rechten Ecke auf der Türseite. An seinem Fußende war ein weiteres Bett hineingezwängt (es mußte so stehen, damit man die Tür öffnen konnte), so daß ich mit angezogenen Beinen schlafen mußte; wenn ich sie ausstreckte, trat ich dem im andern Bett ins Kreuz. Es war ein älterer Mann namens Mr. Reilly, so etwas wie ein Mechaniker, der »obendrin« bei einer der Kohlegruben angestellt war. Glücklicherweise mußte er morgens um fünf zur Arbeit, so daß ich, nachdem er fort war, meine Beine auseinanderwickeln und ein paar Stunden richtig schlafen konnte. Im Bett gegenüber war ein schottischer Bergmann, der bei einem Grubenunglück verletzt worden war (ein riesiger Steinbrocken preßte ihn auf den Boden, und es dauerte mehrere Stunden, bis der Stein weggehoben werden konnte) und dafür fünfhundert Pfund Abfindung erhalten hatte. Er war ein großer, stattlicher Mann um die vierzig, mit ergrautem Haar und einem kurzgeschnittenen Schnurrbart, eher ein Offizier als ein Bergmann; und er blieb, eine kurze Pfeife rauchend, bis spät am Tag im Bett liegen. Das vierte Bett wurde in rascher Folge von Handlungsreisenden, Zeitungsabonnentenfängern und Anreißern für Abzahlungsgeschäfte, die meist nur ein paar Nächte blieben, belegt. Es war ein Doppelbett und bei weitem das beste im Zimmer. Während meiner ersten Nacht hier hatte ich selber darin geschlafen, war dann aber hinausmanövriert worden, um einem andern Mieter Platz zu machen. Ich glaube, daß in dem Doppelbett, das sozusagen als Köder ausgelegt war, alle Neuankömmlinge ihre erste Nacht verbrachten. Alle Fenster waren mit einem roten, am unteren Ende festgeklemmten Sandsack fest verschlossen, und am Morgen stank das Zimmer wie ein Frettchenstall. Beim Aufstehen merkte man es nicht; aber wenn man aus dem Zimmer ging und dann zurückkam, schlug einem der Gestank mit voller Wucht entgegen.
Ich fand nie heraus, wie viele Schlafzimmer das Haus hatte, aber seltsamerweise gab es ein Badezimmer, das noch aus der Zeit vor den Brookers herrührte. Im unteren Stockwerk war die übliche Wohnküche mit ihrem riesigen offenen Kochherd, in dem Tag und Nacht Feuer brannte. Sie war nur durch ein Oberlicht erhellt, denn auf der einen Seite der Küche war der Laden und auf der anderen die Speisekammer, die zu einem dunklen Kellerraum führte, wo die Kutteln gelagert wurden. Einen Teil der Tür zur Speisekammer versperrte ein unförmiges Sofa, auf dem Mrs. Brooker, unsere Vermieterin, ständig kranklag, eingewickelt in schmutzige Decken. Sie hatte ein großes, bleichgelbes, ängstliches Gesicht. Niemand wußte ganz sicher, was mit ihr los war; ich vermute, daß ihre einzigen wirklichen Beschwerden vom zu vielen Essen kamen. Vor dem Herd hing fast immer eine Leine mit feuchter Wäsche, und in der Mitte des Zimmers stand der große Küchentisch, an dem die Familie und alle Hausbewohner aßen. Ich habe diesen Tisch nie völlig unbedeckt gesehen, aber ich sah das, was ihn bedeckte, zu verschiedenen Zeiten. Zuunterst lag eine Schicht alten Zeitungspapiers, mit Worcestersauce getränkt, darüber eine Lage klebriges weißes Wachstuch, über diesem ein grüner Serge-Stoff und zuoberst ein grobes Leintuch, das niemals gewechselt und selten weggenommen wurde. Gewöhnlich lagen die Krümel vom Frühstück beim Abendessen noch auf dem Tisch. Einzelne Krümel konnte ich wiedererkennen, wenn sie von Tag zu Tag den Tisch hinauf- und hinunterwanderten.
Der Laden war ein enger, kalter Raum. Außen am Fenster klebten ein paar weiße Buchstaben, Überreste einer alten Schokoladenreklame, verstreut wie Sterne.
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