Sollte es wohl schon Menschen gegeben haben, die sich bei einem recht innigen Kusse etwas Verständiges haben denken können?

Clara lachte laut, ward dann plötzlich ernsthaft und sagte etwas kleinlaut, ja selbst im Tone des Mitleids: Ja, ja, so verfahren wir mit Domestiken und Haushältern, Reitknechten und Stallmeistern, denen wir doch oft so viel zu verdanken haben. Sind wir in geistiger oder gar in übermütiger Aufregung, so verachten und verlachen wir sie. Mein Vater sprang einmal mit seinem schwarzen Hengst über einen breiten Graben, und, als alle Welt ihn bewunderte und die Damen in die Hände klatschten, stand ein alter Stallmeister in der Nähe, und nur er schüttelte bedenklich mit dem Kopfe. Der Mann war steif und linkisch, mit seinem langen Zopfe und der roten Nase komisch anzuschauen. Nun, Ihr? fuhr ihn mein heftiger Vater an; gibts wieder zu hofmeistern? Der steilrechte Mann ließ sich aber nicht aus der Fassung bringen und sagte ruhig: Erstlich haben Exzellenz dem Pferde den Zügel nicht genug nachgelassen, weil Sie ängstlich waren; Sie konnten stürzen, denn der Sprung war nicht frei und weit genug; zweitens hat das Roß wenigstens ebenso viel Verdienst dabei als Sie, und wenn ich drittens nicht Stunden und Tage lang das Tier geübt und verständig gemacht hätte, was nur geschehen kann, wenn man Langeweile nicht fürchtet und die Geduld übt, so hätten weder Ihr freier Mut, noch der gute Wille des Hengstes etwas gefruchtet. – Ihr habt Recht, alter Mensch, sagte mein Vater und ließ ihm ein großes Geschenk verabreichen. – So wir. Wir dürfen nur phantasieren, uns dem Gefühl und der Ahndung überlassen, träumen und witzig sein, wenn jener trockne Verstand die Schule allen diesen Rossen beigebracht hat. Will Reiter oder Pferd, wenn sie nur Dilettanten geblieben sind, den kühnen Sprung versuchen, so werden sie zum Grauen oder Gelächter der Zuschauer stürzen und im Graben liegen bleiben.

Wahr, bemerkte Heinrich, die Geschichte unsrer Tage bestätigt das in so manchem Schwärmer oder auch Poeten. Es gibt jetzt Dichter, die sogar von der falschen Seite aufsteigen und doch ganz arglos jenen künstlichen Sprung versuchen wollen. O Dein Vater!

Clara sah ihn mit mitleidvollen Augen an, deren Blick er nicht zu widerstehen vermochte. Ja wohl Vater, sagte er halb verdrossen, mit dem einzigen Laut ist sehr viel gesagt. Und was will ich denn auch? Du warst ja doch im Stande, ihn aufzugeben, so sehr du ihn liebtest.

Beide waren ernsthaft geworden. Ich will weiter studieren, sagte dann der junge Mann.

Er nahm das Tagebuch wieder vor und schlug ein Blatt zurück. Er las laut: Heut verkaufte ich dem geizigen Buchhändler mein seltenes Exemplar des Chaucer, jene alte kostbare Ausgabe von Caxton. Mein Freund, der liebe, edle Andreas Vandelmeer, hatte sie mir zu meinem Geburtstage, den wir in der Jugend auf der Universität feierten, geschenkt. Er hatte sie eigens aus London verschrieben, sehr teuer bezahlt und sie dann nach seinem eigensinnigen Geschmack herrlich und reich mit vielen gotischen Verzierungen einbinden lassen. Der alte Geizhals, so wenig er mir auch gegeben hat, hat sie gewiß sogleich nach London geschickt, um mehr als das Zehnfache wieder zu erhalten. Hätte ich nur wenigstens das Blatt herausgeschnitten, auf welchem ich die Geschichte dieser Schenkung erzähle und zugleich diese unsre Wohnung verzeichnet hatte. Das geht nun mit nach London oder in die Bibliothek eines reichen Mannes. Ich bin darüber verdrießlich. Und daß ich dies liebe Exemplar so weggegeben und unter dem Preise verkauft habe, sollte mich fast auf den Gedanken bringen, daß ich wirklich verarmt sei oder Not litte; denn ohne Zweifel war doch dieses Buch das teuerste Eigentum, was ich jemals besessen habe, und welches Angedenken von ihm, von meinem einzigen Freunde! O Andreas Vandelmeer! Lebst du noch? Wo weilest du? Gedenkst du noch mein?

Ich sah Deinen Schmerz, sagte Clara, als Du das Buch verkauftest, aber diesen Deinen Jugendfreund hast Du mir noch niemals näher bezeichnet.

Ein Jüngling, sagte Heinrich, mir ähnlich, aber etwas älter und viel gesetzter. Wir kannten uns schon auf der Schule, und ich mag wohl sagen, daß er mich mit seiner Liebe verfolgte und sie mir leidenschaftlich aufdrang. Er war reich und bei seinem großen Reichtum und seiner verweichlichten Erziehung doch sehr wohlwollend und allem Egoismus fern. Er klagte, daß ich seine Leidenschaft nicht erwidere, daß meine Freundschaft zu kühl und ihm ungenügend sei. Wir studierten mit einander und bewohnten dieselben Zimmer. Er verlangte, ich solle Opfer von ihm begehren; denn er hatte an Allem Überfluß und mein Vater konnte mich nur mäßig unterhalten. Als wir in die Residenz zurückkehrten, faßte er den Plan, nach Ostindien zu gehen; denn er war ganz unabhängig. Nach jenen Ländern der Wunder zog ihn sein Herz; dort wollte er lernen, schauen und seinen heißen Durst nach Kenntnissen und der Ferne sättigen. Nun ein unablässiges Zureden, Bitten und Flehen, daß ich ihn begleiten solle; er versicherte, daß ich dort mein Glück machen werde und müsse, wobei er mich unterstützen wolle; denn dort hatte er von seinen Vorfahren große Besitzungen ererbt.