Die Erde war von jeher oder auch von ihrem Schöpfungstage an (je nachdem) unverändert dieselbe geblichen. Die jetzigen »fünf Weltteile« hatten immer bestanden, immer dieselben Berge, Täler und Flüsse, dasselbe Klima, dieselbe Flora und Fauna gehabt, es sei denn, daß durch Menschenhand Veränderung oder Verpflanzung stattgefunden. Die Arten der Pflanzen und Tiere waren bei ihrer Entstehung ein für allemal festgestellt, Gleiches zeugte fortwährend Gleiches, und es war schon viel, wenn[314] Linné zugab, daß hier und da durch Kreuzung möglicherweise neue Arten entstehn konnten. Im Gegensatz zur Geschichte der Menschheit, die in der Zeit sich entwickelt, wurde der Naturgeschichte nur eine Entfaltung im Raum zugeschrieben. Alle Veränderung, alle Entwicklung in der Natur wurde verneint. Die anfangs so revolutionäre Naturwissenschaft stand plötzlich vor einer durch und durch konservativen Natur, in der alles noch heute so war, wie es von Anfang an gewesen, und in der – bis zum Ende der Welt oder in Ewigkeit – alles so bleiben sollte, wie es von Anfang an gewesen.

So hoch die Naturwissenschaft der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts über dem griechischen Altertum stand an Kenntnis und selbst an Sichtung des Stoffs, so tief stand sie unter ihm in der ideellen Bewältigung desselben, in der allgemeinen Naturanschauung. Den griechischen Philosophen war die Welt wesentlich etwas aus dem Chaos Hervorgegangnes, etwas Entwickeltes, etwas Gewordenes. Den Naturforschern der Periode, die wir behandeln, war sie etwas Verknöchertes, etwas Unwandelbares, den meisten etwas mit einem Schlage Gemachtes. Die Wissenschaft stak noch tief in der Theologie. Überall sucht sie und findet sie als Letztes einen Anstoß von außen, der aus der Natur selbst nicht zu erklären. Wird auch die Anziehung, von Newton pompöserweise allgemeine Gravitation getauft, als wesentliche Eigenschaft der Materie aufgefaßt, woher kommt die unerklärte Tangentialkraft, die erst die Planetenbahnen zustande bringt? Wie sind die zahllosen Arten der Pflanzen und Tiere entstanden? Und wie nun gar erst der Mensch, von dem doch feststand, daß er nicht von Ewigkeit her da war? Auf solche Fragen antwortete die Naturwissenschaft nur zu oft, indem sie den Schöpfer aller Dinge dafür verantwortlich machte. Kopernikus, im Anfang der Periode, schreibt der Theologie den Absagebrief; Newton schließt sie mit dem Postulat des göttlichen ersten Anstoßes. Der höchste allgemeine Gedanke, zu dem diese Naturwissenschaft sich aufschwang, war der der Zweckmäßigkeit der Natureinrichtungen, die flache Wolffsche Teleologie, wonach die Katzen geschaffen wurden, um die Mäuse zu fressen, die Mäuse, um von den Katzen gefressen zu werden, und die ganze Natur, um die Weisheit des Schöpfers darzutun. Es gereicht der damaligen Philosophie zur höchsten Ehre, daß sie sich durch den beschränkten Stand der gleichzeitigen Naturkenntnisse nicht beirren ließ, daß sie – von Spinoza bis zu den großen französischen Materialisten – darauf beharrte, die Welt aus sich selbst zu erklären, und der Naturwissenschaft der Zukunft die Rechtfertigung im Detail überließ.

Ich rechne die Materialisten des achtzehnten Jahrhunderts noch mit zu dieser Periode, weil ihnen kein andres naturwissenschaftliches Material zu[315] Gebote stand als das oben geschilderte. Kants epochemachende Schrift blieb ihnen ein Geheimnis, und Laplace kam lange nach ihnen. Vergessen wir nicht, daß diese veraltete Naturanschauung, obwohl an allen Ecken und Enden durchlöchert durch den Fortschritt der Wissenschaft, die ganze erste Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts beherrscht hatA2 und noch jetzt, der Hauptsache nach, auf allen Schulen gelehrt wird1.

Die erste Bresche in diese versteinerte Naturanschauung wurde geschossen nicht durch einen Naturforscher, sondern durch einen Philosophen. 1755 erschien Kants »Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels«. Die Frage nach dem ersten Anstoß war beseitigt; die Erde und das ganze Sonnensystem erschienen als etwas im Verlauf der Zeit Gewordenes. Hätte die große Mehrzahl der Naturforscher weniger von dem Abscheu vor dem Denken gehabt, den Newton mit der Warnung ausspricht: Physik, hüte dich vor der Metaphysik! – sie hätten aus dieser einen genialen Entdeckung Kants Folgerungen ziehn müssen, die ihnen endlose Abwege, unermeßliche Mengen in falschen Richtungen vergeudeter Zeit und Arbeit ersparte. Denn in Kants Entdeckung lag der Springpunkt alles ferneren Fortschritts. War die Erde etwas Gewordenes, so mußte ihr gegenwärtiger geologischer, geographischer, klimatischer Zustand, mußten ihre Pflanzen und Tiere ebenfalls etwas Gewordenes sein, mußte sie eine Geschichte haben nicht nur im Raum nebeneinander, sondern auch in der Zeit nacheinander. Wäre sofort in dieser Richtung entschlossen fortuntersucht worden, die Naturwissenschaft wäre jetzt bedeutend weiter, als sie ist. Aber was[316] konnte von der Philosophie Gutes kommen? Kants Schrift blieb ohne unmittelbares Resultat, bis lange Jahre später Laplace und Herschel ihren Inhalt ausführten und näher begründeten und damit die »Nebularhypothese« allmählich zu Ehren brachten. Fernere Entdeckungen verschafften ihr endlich den Sieg; die wichtigsten darunter waren: die Eigenbewegung der Fixsterne, der Nachweis eines widerstehenden Mittels im Weltraum, der durch die Spektralanalyse geführte Beweis der chemischen Identität der Weltmaterie und des Bestehens solcher glühenden Nebelmassen, wie Kant sie vorausgesetztA3.

Es ist aber erlaubt zu zweifeln, ob der Mehrzahl der Naturforscher der Widerspruch einer sich verändernden Erde, die unveränderliche Organismen tragen soll, so bald zum Bewußtsein gekommen wäre, hätte die aufdämmernde Anschauung, daß die Natur nicht ist, sondern wird und vergeht, nicht von andrer Seite Sukkurs bekommen. Die Geologie entstand und wies nicht nur nacheinander gebildete und übereinander gelagerte Erdschichten auf, sondern auch in diesen Schichten die erhaltenen Schalen und Skelette ausgestorbner Tiere, die Stämme, Blätter und Früchte nicht mehr vorkommender Pflanzen. Man mußte sich entschließen anzuerkennen, daß nicht nur die Erde im ganzen und großen, daß auch ihre jetzige Oberfläche und die darauf lebenden Pflanzen und Tiere eine zeitliche Geschichte hatten. Die Anerkennung geschah anfangs widerwillig genug. Cuviers Theorie von den Revolutionen der Erde war revolutionär in der Phrase und reaktionär in der Sache. An die Stelle der Einen göttlichen Schöpfung setzte sie eine ganze Reihe wiederholter Schöpfungsakte, machte das Mirakel zu einem wesentlichen Hebel der Natur. Erst Lyell brachte Verstand in die Geologie, indem er die plötzlichen, durch die Launen des Schöpfers hervorgerufenen Revolutionen ersetzte durch die allmählichen Wirkungen einer langsamen Umgestaltung der Erde.2

Die Lyellsche Theorie war noch unverträglicher mit der Annahme beständiger organischer Arten als alle ihre Vorgängerinnen. Allmähliche Umgestaltung der Erdoberfläche und aller Lebensbedingungen führte direkt[317] auf allmähliche Umgestaltung der Organismen und ihre Anpassung an die sich ändernde Umgebung, auf die Wandelbarkeit der Arten.