Aber die Tradition ist eine Macht nicht nur in der katholischen Kirche, sondern auch in der Naturwissenschaft. Lyell selbst sah jahrelang den Widerspruch nicht, seine Schüler noch weniger. Es ist dies nur zu erklären durch die inzwischen in der Naturwissenschaft herrschend gewordne Teilung der Arbeit, die jeden auf sein spezielles Fach mehr oder weniger beschränkte und nur wenige nicht des allgemeinen Überblicks beraubte.
Inzwischen hatte die Physik gewaltige Fortschritte gemacht, deren Resultate in dem für diesen Zweig der Naturforschung epochemachenden Jahr 1842 von drei verschiedenen Männern fast gleichzeitig zusammengefaßt wurden. Mayer in Heilbronn und Joule in Manchester wiesen den Umschlag von Wärme in mechanische Kraft und von mechanischer Kraft in Wärme nach. Die Feststellung des mechanischen Äquivalents der Wärme stellte dies Resultat außer Frage. Gleichzeitig bewies Grove – kein Naturforscher von Profession, sondern ein englischer Advokat – durch einfache Verarbeitung der bereits erreichten einzelnen physikalischen Resultate die Tatsache, daß alle sog. physikalischen Kräfte, mechanische Kraft, Wärme, Licht, Elektrizität, Magnetismus, ja selbst die sog. chemische Kraft, unter bestimmten Bedingungen die eine in die andre umschlagen, ohne daß irgendwelcher Kraftverlust stattfindet, und bewies so nachträglich auf physikalischem Wege den Satz des Descartes, daß die Quantität der in der Welt vorhandenen Bewegung unveränderlich ist. Hiermit waren die besondren physikalischen Kräfte, sozusagen die unveränderlichen »Arten« der Physik, in verschieden differenzierte und nach bestimmten Gesetzen ineinander übergehende Bewegungsformen der Materie aufgelöst. Die Zufälligkeit des Bestehens von soundso viel physikalischen Kräften war aus der Wissenschaft beseitigt, indem ihre Zusammenhänge und Übergänge nachgewiesen. Die Physik war, wie schon die Astronomie, bei einem Resultat angekommen, das mit Notwendigkeit auf den ewigen Kreislauf der sich bewegenden Materie als Letztes hinwies.
Die wunderbar rasche Entwicklung der Chemie seit Lavoisier und besonders seit Dalton griff die alten Vorstellungen von der Natur von einer andern Seite an. Durch Herstellung von bisher nur im lebenden Organismus erzeugten Verbindungen auf anorganischem Wege wies sie nach, daß die Gesetze der Chemie für organische Körper dieselbe Gültigkeit haben wie für unorganische, und füllte sie einen großen Teil der noch nach Kant auf ewig unüberschreitbaren Kluft zwischen unorganischer und organischer Natur aus.[318]
Endlich hatten auch auf dem Gebiet der biologischen Forschung, namentlich die seit Mitte des vorigen Jahrhunderts systematisch betriebnen wissenschaftlichen Reisen und Expeditionen, die genauere Durchforschung der europäischen Kolonien in allen Weltteilen durch dort lebende Fachleute, ferner die Fortschritte der Paläontologie, der Anatomie und Physiologie überhaupt, besonders seit systematischer Anwendung des Mikroskops und Entdeckung der Zelle, so viel Material gesammelt, daß die Anwendung der vergleichenden Methode möglich und zugleich notwendig wurdeA4. Einerseits wurden durch die vergleichende physische Geographie die Lebensbedingungen der verschiednen Floren und Faunen festgestellt, andrerseits die verschiednen Organismen nach ihren homologen Organen untereinander verglichen, und zwar nicht nur im Zustand der Reife, sondern auf allen ihren Entwicklungsstufen. Je tiefer und genauer diese Untersuchung geführt wurde, desto mehr zerfloß ihr unter den Händen jenes starre System einer unveränderlich fixierten organischen Natur. Nicht nur, daß immer mehr einzelne Arten von Pflanzen und Tieren rettungslos ineinander verschwammen, es tauchten Tiere auf, wie Amphioxus und Lepidosiren, die aller bisherigen Klassifikation spottetenA5, und endlich stieß man auf Organismen, von denen nicht einmal zu sagen war, ob sie zum Pflanzenreich oder zum Tierreich gehörten. Die Lücken im paläontologischen Archiv füllten sich mehr und mehr und zwangen auch dem Widerstrebendsten den schlagenden Parallelismus auf, der zwischen der Entwicklungsgeschichte der organischen Welt im ganzen und großen und der des einzelnen Organismus besteht, den Ariadnefaden, der aus dem Labyrinth führen sollte, worin Botanik und Zoologie sich tiefer und tiefer zu verirren schienen. Es war bezeichnend, daß fast gleichzeitig mit Kants Angriff auf die Ewigkeit des Sonnensystems C. F. Wolff 1759 den ersten Angriff auf die Beständigkeit der Arten erließ und die Abstammungslehre proklamierte. Aber was bei ihm nur noch geniale Antizipation, das nahm bei Oken, Lamarck, Baer feste Gestalt an und wurde genau 100 Jahre später, 1859, von Darwin sieghaft durchgeführt. Fast gleichzeitig wurde konstatiert, daß Protoplasma und Zelle, die schon früher als letzte Formbestandteile aller Organismen nachgewiesen, als niedrigste organische Formen selbständig lebend vorkommen. Damit war sowohl die Kluft zwischen anorganischer und organischer Natur auf ein Minimum reduziert, wie auch eine der wesentlichsten Schwierigkeiten beseitigt, die der Abstammungstheorie der Organismen bisher entgegenstand.[319] Die neue Naturanschauung war in ihren Grundzügen fertig: Alles Starre war aufgelöst, alles Fixierte verflüchtigt, alles für ewig gehaltene Besondere vergänglich geworden, die ganze Natur als in ewigem Fluß und Kreislauf sich bewegend nachgewiesen.
Und so sind wir denn wieder zurückgekehrt zu der Anschauungsweise der großen Gründer der griechischen Philosophie, daß die gesamte Natur, vom Kleinsten bis zum Größten, von den Sandkörnern bis zu den Sonnen, von den Protisten bis zum Menschen, in ewigem Entstehen und Vergehen, in unaufhörlichem Fluß, in rastloser Bewegung und Veränderung ihr Dasein hat. Nur mit dem wesentlichen Unterschied, daß, was bei den Griechen geniale Intuition war, bei uns Resultat streng wissenschaftlicher, erfahrungsmäßiger Forschung ist und daher auch in viel bestimmterer und klarerer Form auftritt. Allerdings ist der empirische Nachweis dieses Kreislaufs nicht ganz und gar frei von Lücken, aber diese sind unbedeutend im Vergleich zu dem, was bereits sichergestellt ist, und füllen sich mit jedem Jahr mehr und mehr aus. Und wie konnte der Nachweis im Detail anders als lückenhaft sein, wenn man bedenkt, daß die wesentlichsten Zweige der Wissenschaft – die transplanetari sche Astronomie, die Chemie, die Geologie – kaum ein Jahrhundert, die vergleichende Methode in der Physiologie kaum fünfzig Jahre wissenschaftlicher Existenz zählen, daß die Grundform fast aller Lebensentwicklung, die Zelle, noch nicht vierzig Jahre entdeckt ist!A6
Aus wirbelnden, glühenden Dunstmassen, deren Bewegungsgesetze vielleicht erschlossen werden, nachdem die Beobachtungen einiger Jahrhunderte uns über die Eigenbewegung der Sterne Klarheit verschafft, entwickelten sich durch Zusammenziehung und Abkühlung die zahllosen Sonnen und Sonnensysteme unsrer von den äußersten Sternringen der Milchstraße begrenzten Weltinsel. Diese Entwicklung ging offenbar nicht überall gleich schnell vor sich. Die Existenz dunkler, nicht bloß planetarischer Körper, also ausgeglühter Sonnen in unserm Sternsystem, drängt sich der Astronomie mehr und mehr auf (Mädler); andrerseits gehört (nach[320] Secchi) ein Teil der dunstförmigen Nebelflecke als noch nicht fertige Sonnen zu unserm Sternsystem, wodurch nicht ausgeschlossen ist, daß andre Nebel, wie Mädler behauptet, ferne selbständige Weltinseln sind, deren relative Entwicklungsstufe das Spektroskop festzustellen hat.
Wie aus einer einzelnen Dunstmasse ein Sonnensystem sich entwickelt, hat Laplace im Detail in bis jetzt unübertroffner Weise nachgewiesen; die spätere Wissenschaft hat ihn mehr und mehr bestätigt.
Auf den so gebildeten einzelnen Körpern – Sonnen wie Planeten und Satelliten – herrscht anfangs diejenige Bewegungsform der Materie vor, die wir Wärme nennen. Von chemischen Verbindungen der Elemente kann selbst bei einer Temperatur, wie sie heute noch die Sonne hat, keine Rede sein; inwieweit die Wärme sich dabei in Elektrizität oder Magnetismus umsetzt, werden fortgesetzte Sonnenbeobachtungen zeigen; daß die auf der Sonne vorgehenden mechanischen Bewegungen lediglich aus dem Konflikt der Wärme mit der Schwere hervorgehn, ist schon jetzt so gut wie ausgemacht.
Die einzelnen Körper kühlen sich um so rascher ab, je kleiner sie sind. Satelliten, Asteroiden, Meteore zuerst, wie denn ja unser Mond längst verstorben ist. Langsamer die Planeten, am langsamsten der Zentralkörper.
Mit der fortschreitenden Abkühlung tritt das Wechselspiel der ineinander umschlagenden physikalischen Bewegungsformen mehr und mehr in den Vordergrund, bis endlich ein Punkt erreicht wird, von wo an die chemische Verwandtschaft anfängt, sich geltend zu machen, wo die bisher chemisch indifferenten Elemente sich nacheinander chemisch differenzieren, chemische Eigenschaften erlangen, Verbindungen miteinander eingehn.
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