Sie bringen mir ihn heute wieder fünfundzwanzig Minuten zu spät. Das nächste Mal, wenn er nicht um sechs Uhr dreißig auf meinem Tische liegt, verlassen Sie binnen acht Tagen meinen Dienst.
– Wünscht der Herr Professor jetzt zu speisen? fragte der Diener, bevor er sich zurückzog.
– Es ist jetzt erst um sechs Uhr fünfundfünfzig und ich esse um sieben Uhr! Das ist Ihnen schon seit den drei Wochen, die Sie in meinem Hause sind, bekannt. Beachten Sie für die Zukunft, daß ich niemals mit den Stunden wechsle und nicht gewohnt bin, meine Anordnungen zu wiederholen.«
Der Professor legte das Journal auf den Tisch und begann wieder an einem Aufsatze zu arbeiten, der in den nächsten Tagen in den »Annalen für Physiologie« erscheinen sollte. Wir begehen wohl keine Indiscretion, wenn wir die Ueberschrift dieser Arbeit mittheilen. Dieselbe lautete nämlich:
»Warum verfallen alle Franzosen in höherem oder geringerem Grade einer fortwährenden Entartung?«
Während sich der Professor mit dieser Aufgabe beschäftigte, wurde das Abendessen auf einem anderen Tische servirt. Der Gelehrte legte die Feder weg und verzehrte diese Mahlzeit mit größerem Wohlgefallen, als man von einer so ernsthaften Persönlichkeit erwartet hätte. Dann klingelte er nach dem Kaffee, zündete eine große Porzellanpfeife an und machte sich wieder an die Arbeit.
Es war fast Mitternacht, als der Professor das letzte Blatt weglegte, worauf er sich sofort nach seinem Schlafzimmer begab, um der wohlverdienten Ruhe zu pflegen. Erst im Bette löste er das Kreuzband von seinem Journal und begann vor dem Einschlafen noch ein wenig zu lesen. Eben als ihm die Augen zufallen wollten, wurde seine Aufmerksamkeit durch einen fremden Namen, nämlich Langevol, erregt, dem er unter der Rubrik »Vermischtes« in Verbindung mit der ungeheuren Erbschaftsangelegenheit begegnete. So viel er sich aber auch bemühte, sich klar zu machen, weshalb ihm dieser Name besonders auffiel, so gelangte er doch zu keinem Resultate.
Nachdem er eine Zeit lang vergeblich hin und her überlegt hatte, warf er die Zeitung weg, blies das Licht aus und lag bald in tiefem Schlafe.
In Folge eines gewissen physiologischen Phänomens aber, über welches er sich früher selbst in langen gelehrten Abhandlungen verbreitet hatte, kehrte dieser Name Langevol sogar in Professor Schultzes Träumen wieder. Ja, beim Erwachen am nächsten Morgen hatte er ihn zu seiner größten Verwunderung zuerst auf den Lippen.
Plötzlich, als er gerade nach der Uhr sehen wollte, ging ihm ein unerwartetes Licht auf. Er hob das vor dem Bett liegende Journal wieder auf und las die betreffende Nachricht wiederholt von Anfang bis zu Ende durch, während er sich immer noch die Stirne rieb, als wolle er seine Gedanken in besseren Fluß bringen. Offenbar wurde er sich klar, denn er sprang plötzlich auf und lief, ohne sich zum Anziehen des großgeblümten Schlafrockes Zeit zu nehmen, nach der Wand, holte ein neben dem Fenster hängendes kleines Porträt herab und strich mit dem Aermel über dessen bestaubte Rückseite.
Der Professor hatte sich nicht getäuscht. Hinter dem Bilde las man in vergilbten, durch ein halbes Jahrhundert schon nahezu unleserlich gemachten Schriftzügen die Worte:
»Therese Schultze, geborne Langevol.«
Noch am Abend desselben Tages reiste der Professor mit dem Schnellzuge nach London ab.
Viertes Capitel
Jeder seinen Theil
Am 6. November um sieben Uhr Morgens kam Herr Schultze auf dem Bahnhofe von Charing-Croß an. Gegen Mittag stellte er sich in Nummer 93, Southampton row, in einem durch eine hölzerne Barrière in zwei Theile getrennten größeren Zimmer ein, das auf der einen Seite für die Beamten des Hauses, auf der anderen für das Publikum bestimmt war und dessen Mobiliar aus sechs Stühlen, einem dunklen Tische, unzähligen grünen Pappbänden und einem ungeheuren Adreßbuche bestand. Vor dem Tische saßen zwei junge Leute welche eben dabei waren, ihr aus Brot und Käse bestehendes Frühstück – die gewöhnliche Mahlzeit im Reiche der Schreiber – zu verzehren.
»Ich komme hier recht zu den Herren Billows, Green und Sharp? fragte der Professor mit demselben Tone, mit dem er etwa sein Essen bestellte.
– Mister Sharp ist in seinem Cabinet.
– Ihr Name? Und welche Angelegenheit?
– Professor Schultze aus Jena, Langevol’sche Erbschaftssache.«
Der junge Mann meldete diese Auskunft durch ein Sprachrohr weiter und erhielt auf dem nämlichen Wege eine Antwort, die er sich freilich hütete, laut zu wiederholen. Man konnte dieselbe etwa übersetzen:
»Zum Teufel mit der Langevol’schen Erbschaftssache!
Wiederum ein Narr, welcher Ansprüche zu haben glaubt!«
Antwort des jungen Mannes:
»Es ist ein Herr von »respectabler« Erscheinung. Er macht keinen besonders angenehmen Eindruck, gehört aber offenbar nicht zu den gewöhnlichen Leuten.«
Ein weiterer mysteriöser Ausruf.
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