»O, rief er plötzlich, und wenn es mit dem Teufel selbst zuginge, ich werde hinter Herrn Schultze’s Geheimniß kommen und zu erfahren wissen, was er gegen France-Ville im Schilde führt!

Den Namen des Doctor Sarrasin auf den Lippen, schlummerte Schwartz ein, im Traume aber veränderte sich dieser zu dem Namen der kleinen Tochter des Arztes.

Ungeschwächt bewahrte er die Erinnerung an das liebliche Mädchen, zumal da Jeanne, seit er sie verlassen, nun zur Jungfrau aufgeblüht sein mußte. Diese Erscheinung erklärt sich leicht durch die bekannten Gesetze der Ideenassociation: Der Gedanke an Doctor Sarrasin legte ja den an dessen Tochter ziemlich nahe, und als Schwartz oder vielmehr Marcel Bruckmann erwachte und noch immer Jeanne’s Namen im Gedächtniß hatte, erstaunte er darüber nicht im mindesten, sondern erkannte nur eine Bestätigung der ausgezeichneten psychologischen Grundwahrheiten Stuart Mill’s.

Sechstes Capitel

Der Albrechts-Schacht

Madame Bauer, die brave Frau, welche Marcel Bruckmann bei sich aufgenommen hatte, war eine Schweizerin von Geburt und die Witwe eines Bergmannes, der vor etwa vier Jahren durch einen jener Unfälle getödtet wurde, die dem Leben des Kohlengräbers den Charakter eines fortwährenden Kampfes verleihen. Das Etablissement gewährte ihr eine kleine jährliche Pension von dreißig Dollars, neben der sie ihr Leben noch durch den geringen Ertrag eines möblirt vermietheten Zimmers und den Lohn ihres Sohnes kärglich fristete, den dieser jeden Sonntag heimbrachte.

Obgleich erst dreizehn Jahre alt, war Karl doch schon in einer Kohlengrube angestellt, wo er beim Passiren der Kohlenwagen eine jener Luftthüren zu öffnen und zu schließen hatte, die zur Ventilation der Schächte unumgänglich nöthig sind, weil man durch dieselben dem Luftstrome eine beliebige Richtung anzuweisen vermag. Das von seiner Mutter ermiethete Häuschen lag zu entfernt vom Albrechts-Schacht, als daß er jeden Abend hätte dahin gehen können, deshalb hatte man ihm auch noch eine leichte nächtliche Beschäftigung in der Grube angewiesen, welche darin bestand, daß er sechs Pferde in ihrem unterirdischen Stalle zu bewachen und zu füttern hatte, während der Stallknecht nach Hause gegangen war.

Karl’s Leben verlief also fast ganz und gar fünfhundert Meter unterhalb der Erdoberfläche. Tagsüber stand er bei seiner Luftthüre auf Wache, des Nachts schlief er auf dem Stroh neben seinen Pferden. Nur Sonntags Morgens kehrte er einmal an das Licht zurück und konnte sich wenige Stunden an der Sonne, dem blauen Himmel und dem Lächeln der Mutter erfreuen.

Es liegt auf der Hand, daß er nach einer solchen Woche, wo er aus dem Schachte herauskam, nicht gerade einem

»schmucken jungen« Manne glich. Er ähnelte weit mehr einem Berggeiste der Zauberstücke, einem Essenkehrer oder einem Papua-Neger. Frau Bauer verwendete dann viel Zeit darauf, ihn unter Verschwendung von warmem Wasser und von Seife erst wieder menschlich zu gestalten. Hierauf legte er den Sonntagsstaat aus grobem grünen Tuche an ein Ueberbleibsel der väterlichen Nachlassenschaft, den die Mutter aus dem großen Weidenholzschranke hervorholte, um dann ihren Knaben, den sie nun für den schönsten der ganzen Welt hielt, bis zum Abend mit selbstzufriedener Zärtlichkeit zu bewundern.

Von seiner Kohlenstaubschichte befreit, war Karl eben nicht häßlicher als irgend ein Anderer. Seine blonden Seidenhaare und die blauen sanften Augen paßten recht gut zu dem auffallend weißen Teint, doch war sein Körper für das Alter von dreizehn Jahren zu klein. Das sonnenlose Leben machte ihn ebenso blutarm, wie eine im Keller wachsende Pflanze, und wahrscheinlich hätte Doctor Sarrasin’s Blutkügelchen-Zähler bei dem jungen Bergmanne eine viel zu geringe Menge dieser Organismusmünze ergeben.

Im Uebrigen erschien das Kind schweigsam, ruhig, sogar phlegmatisch, ließ aber doch ein wenig von dem Stolze durchblicken, den das Gefühl fortwährender Gefahr, der Gewohnheit regelmäßiger Arbeit und der Selbstbefriedigung über die besiegten Schwierigkeiten so leicht jedem Bergmanne verleiht.

Sein größtes Glück fand er darin neben der Mutter an dem großen viereckigen Tische zu sitzen, der die Mitte der niedrigen Stube einnahm, und auf einem Carton eine Menge abscheulicher Insekten zu befestigen, die er aus den Eingeweiden der Erde mit herausgebracht hatte. Die Wärme und gleichmäßige Atmosphäre der Minen erzeugen eine den Naturforschern nur wenig bekannte Fauna, ebensowie die feuchten Steinkohlenwände eine seltsame Flora von Moosen, unbeschriebenen Pilzen und amorphen Gebilden aufweisen.

Der Ingenieur Maulesmülhe, ein Liebhaber der Entomologie, hatte das bald entdeckt und Karl für jede neue Species, von der er ihm, wenn auch nur ein Exemplar verschaffte, einen halben Laubthaler versprochen. Diese goldene Aussicht verlockte den Knaben zuerst dazu, alle Winkel seiner Grube zu durchsuchen, und machte am Ende aus ihm selbst einen Sammler, so daß er nun auch Insekten zum eigenen Vergnügen einfing.

Dabei beschränkte er seine Liebhaberei nicht allein auf Spinnen und Asseln. Er unterhielt in seiner Einsamkeit auch sehr freundschaftliche Beziehungen mit zwei Fledermäusen und einer Feldratte. Seinen Reden nach waren diese drei Thiere die gescheidtesten und hübschesten der Erde, jedenfalls verständiger als seine Pferde mit den langen weichen Haaren und der prächtigen Mähne, von denen Karl übrigens nur mit Bewunderung sprach.

Da war vorzüglich Blair-Athol, der Erste des Stalles, ein alter Philosoph, der vor sechs Jahren fünfhundert Meter unter die Oberfläche des Meeres hinabgekommen war und niemals das Licht des Tages wiedergesehen hatte. Jetzt litt das Thier fast an völliger Blindheit. Wie genau kannte es aber sein unterirdisches Terrain! Wie wußte es sich nach rechts und links zu drehen, wenn es seinen Wagen dahinzog, ohne sich je um einen Schritt zu verirren! Wie sicher hielt es vor den Luftthüren in richtiger Entfernung an, um den nöthigen Raum zur Oeffnung derselben frei zu lassen! Wie freundlich wieherte es Morgens und Abends zur bestimmten Minute, wenn ihm sein wohlverdientes Futter gereicht wurde! Und es war so gut, so anhänglich und zärtlich!

»Ich versichere Dir, Mutter, daß es mir wirklich einen Kuß giebt, indem es mit dem Backen an meine Wange streicht, wenn ich ihm mit dem Kopfe nahe komme, sagte Karl Und Du kannst Dir vorstellen wie bequem es ist daß Blair-Athol die Uhr so genau im Kopfe hat. Ohne ihn würden wir die ganze Woche über nicht wissen, ob es Nacht oder Tag, Abend oder Morgen ist!«

So plauderte das Kind und Frau Bauer lauschte ihm mit Wohlgefallen. Sie liebte Blair-Athol schon deshalb, weil ihm ihr Sohn gewogen war, und ermangelte bei Gelegenheit nicht, ihm das auch durch ein mitgesendetes Stückchen Zucker zu beweisen.