Was hätte sie nicht darum gegeben, diesen alten treuen Diener, den ihr Mann schon gekannt hatte, einmal zu sehen und gleichzeitig die Stelle zu besuchen, wo der Leichnam des armen Bauer nach der Explosion schwarz wie Tinte und verkohlt von den schlagenden Wettern aufgefunden worden war…. Frauen hatten aber keinen Zutritt zur Grube und sie mußte sich also mit den oft wiederholten Beschreibungen ihres Sohnes begnügen.

Ach, sie kannte sie sehr gut, diese Grube, diesen schwarzen Schlund, aus dem ihr Mann nicht wieder zurückgekehrt war!

Wie oft hatte sie an der gähnenden Mündung von achtzehn Fuß Durchmesser gewartet und war längs der Schachtmauer dem doppelten Gestelle aus Eichenholz gefolgt, in dem die Butten an ihrem über die stählernen Blockrollen gelegten Kabel auf und ab liefen, oder hatte sie an der äußeren Umplankung das Maschinenhaus, das Stübchen des Stemplers und alles Andere besucht, was sich sonst hier noch vorfand! Wie oft wärmte sie sich früher an dem unausgesetzt glühenden Feuer des ungeheuren Eisenkorbes, an dem die Bergleute, wenn sie aus dem Abgrunde emporsteigen, ihre Kleidung trockneten und die ungeduldigen Raucher ihre Pfeifen anzündeten! Wie vertraut war sie mit dem Lärmen und der Thätigkeit dieser höllischen Pforte! Die Schaffner, welche die mit Kohlen beladenen Wagen in Empfang nahmen, die Gestängarbeiter, die Ausleser und Wäscher, die Mechaniker und Heizer, sie hatte Alle wiederholt gesehen und kennen gelernt.

Niemals erblickte ihr Auge aber, und doch sah sie es so lebhaft vor sich, wenn auch nur durch das Auge des Herzens, was da in der Tiefe vorging, wenn die Butte mit ihrer Menschenlast, darunter früher ihr Mann und jetzt ihr einziges Kind, im schwarzen Abgrund verschwunden war.

Sie hörte die Stimme und das Gelächter der Leute, wie es allmälich schwächer wurde und endlich ganz verstummte. Sie folgte in Gedanken diesem Käfige, der sich in den engen lothrechten Schacht hinabsenkte – fünf- bis sechshundert Meter, viermal so tief wie die Höhe der größten Pyramide – sie sah ihn dann endlich am Ziele ankommen und die Männer sich beeilen, den Erdboden zu betreten.

Dann zerstreuten sich diese in der unterirdischen Stadt nach allen Seiten, die Karrenläufer suchten ihre Wagen auf; die Häuer mit der Eisenhaue, von der sie ihren Namen haben, wanderten nach dem Kohlenflötze, das man eben in Arbeit hatte; die Ausfüller sorgten dafür, die leeren Gänge, aus denen die mineralischen Schätze geraubt waren, wieder mit festen Massen auszusetzen; die Zimmerer errichteten die Gerüste zur Unterstützung der nicht ausgemauerten Stollen; die Geleisarbeiter besserten an den Wegen aus oder legten Schienen; die Maurer wölbten Gänge….

Eine Centralgallerie geht von dem Schachte aus und endet wie ein breiter Fahrweg an einem anderen, drei bis vier Kilometer entfernten Schachte. Von dieser strahlen rechtwinklig Seitenstollen aus und an diesen wieder parallel mit der ersten die Gänge dritter Ordnung. Zwischen diesen Wegen erheben sich Mauern oder Pfeiler, entweder aus Kohle oder aus Felsgestein, Alles ist regelmäßig, viereckig, solid und

– schwarz!….

Und in diesem Labyrinth von Straßen gleicher Länge und Breite arbeitete eine ganze Armee halbnackter Bergleute, plaudernd bei dem Schimmer ihrer Sicherheitslampen.

Das war das Bild, welches Frau Bauer sich so häufig vor Augen führte, wenn sie allein und gedankenvoll am Kamine saß.

Unter diesen sich kreuzenden Stollen allen kannte sie vorzüglich einen genau, jedenfalls besser als alle anderen, den nämlich, dessen Thür ihr kleiner Karl den Tag über öffnete und wieder verschloß. Wenn dann der Abend kam, stieg die Tagesschicht wieder empor, um von der Nachtschicht abgelöst zu werden. Ihr Sohn aber nahm nicht mit in der Kufe Platz. Er begab sich nach dem Stalle, zu seinem Liebling Blair- Athol, besorgte diesem das nöthige Futter an Hafer und seine Provision an Heu; dann verzehrte er selbst sein kaltes Abendbrot, das ihm von oben her zugeschickt wurde, spielte ein wenig mit der großen Ratte, die unbeweglich ihm zu Füßen saß, oder mit den beiden Fledermäusen, welche schwerfällig um sein Haupt flatterten, und schlummerte endlich auf dem ärmlichen Strohlager friedlich ein.

Wie genau wußte Frau Bauer das Alles und wie verstand sie jedes Wort von ihrem Karl, noch bevor er es ganz ausgesprochen hatte.

»Weißt Du, Mutter, was mir gestern der Herr Ingenieur Maulesmüthe sagte? Er sagte, wenn ich auf einige arithmetische Fragen, die er in den nächsten Tagen an mich richten würde, gute Antworten gäbe, so wolle er mich verwenden, die Maßkette zu halten, wenn er mit seiner Boussole Grubenpläne aufnehme. Es scheint, man will einen Stollen nach dem Weberschacht durchschlagen, und es wird Mühe kosten, diesen genau zu treffen.

– Wirklich, rief Frau Bauer hocherfreut, der Herr Ingenieur Maulesmüthe hat das gesagt!«

Sie stellte sich schon vor, wie ihr Knabe in den Stollen die Kette hielt, während der Ingenieur mit dem Notizbuche in der Hand die Maße eintrug und das Auge auf die Boussole gerichtet, den Winkel für den Durchschlag bestimmte.

»Leider, fuhr Karl fort, weiß ich Niemand, der mir erklären könnte, was ich von der Arithmetik noch nicht kenne, und ich fürchte, jene Fragen schlecht zu beantworten.«

Jetzt mischte sich Marcel, der am Kamin schweigend sein Pfeifchen rauchte, wozu ihn seine Eigenschaft als Pensionär des Hauses berechtigte, in das Gespräch und sagte zu dem Kinde:

»Wenn Du mir mittheilen willst, was Dir fehlt, so könnte ich Dir wohl aus der Noth helfen.

– Sie? bemerkte Frau Bauer etwas ungläubig.

– Gewiß, erwiderte Marcel. Glauben Sie denn, ich lernte gar nichts bei dem Unterricht, den ich Abends nach dem Essen besuche? Der Lehrer ist mit mir recht zufrieden und meint, ich könnte ihm vielleicht zur Aushilfe und zum Wiederholen dienen.«

Marcel holte darauf aus seinem Zimmer ein noch leeres Schreibheft, setzte sich neben den kleinen Knaben, unterrichtete sich über die Lücken in dessen Kenntnissen und setzte ihm Alles mit so großer Klarheit auseinander, daß dieser darin nicht die geringsten Schwierigkeiten fand.

Von diesem Tage ab erwies Frau Bauer ihrem Pensionär offenbar eine größere Achtung und Marcel faßte mehr und mehr Zuneigung zu seinem kleinen Kameraden.

Er selbst erwies sich übrigens als musterhafter Arbeiter und wurde deshalb bald in die zweite und nach kurzer Zeit zur ersten Classe versetzt. Jeden Morgen Punkt sieben Uhr fand er sich am Thore O ein. Alle Abende begab er sich nach dem Essen zum Unterricht, den der Ingenieur Trubner ertheilte.

Geometrie, Algebra, Figuren- und Maschinenzeichnen, Alles erfaßte er mit gleichem Eifer und machte darin so schnelle Fortschritte, daß der Lehrer darüber erstaunte. Nach zweimonatlichem Verweilen in dem Schultze’schen Werke war der junge Arbeiter schon als einer der hellsten Köpfe nicht nur im Sector O, sondern in ganz Stahlstadt vorgemerkt.