Seine Methode der ›ratiocination‹, der Erschließung eines Tatbestandes durch genaue Beobachtung und logisches Folgern, ist seitdem zur Schablone für einen Zweig der Literatur geworden, der über die Jahrzehnte hinweg stetig an Beliebtheit gewonnen hat, nicht zuletzt, weil der Leser, wie Brecht treffend formuliert, Vergnügen daraus ziehen kann, wie er zu vernünftigen Urteilen gebracht wird, indem man ihn zwingt, seine Vorurteile aufzugeben.
Der ›Meisterschüler‹ Poes ist Arthur Conan Doyle. Er hat dieses Meister-Schüler-Verhältnis nicht geleugnet, und auf seiner letzten Reise in die USA äußerte er nach einem Besuch in Fordham bei New York, wo Poe seine letzten Jahre verbracht hatte: ›Wenn jeder, der seine Eingebungen Poe verdankt, den zehnten Teil seines Profits hergeben müßte, so könnte diesem ein Monument errichtet werden, das größer wäre als die Pyramiden, und ich zum Beispiel wäre einer von den Erbauern.‹ Indes lebt sein Sherlock Holmes nicht ausschließlich aus dem Erbe Poes, wenngleich er mit Monsieur Dupin frappierende Ähnlichkeiten aufweist: Wie dieser ist er Pfeifenraucher und manchmal, wenn er nicht eine Fährte verfolgt, in träumerischer, fast brütender Stimmung; wie dieser spricht er kaum über seinen ›Fall‹, solange er an ihm arbeitet, bricht er in anderer Leute Gedankengänge ein und führt sie zu Ende und hält er nicht allzu viel von beamteten Rechercheuren; wie diesem ist ihm ein Erzähler beigegeben, vor dessen simplem ›gesundem Menschenverstand‹ sich seine immense Analysierfähigkeit desto strahlender abhebt; wie dieser hegt er die streng positivistische Überzeugung, durch richtiges – und das heißt immer: deduktives – Angehen eines Problems auf jeden Fall zu seiner Lösung zu gelangen, und das geradezu klassisch gewordene und in der Nachfolge von Dutzenden Autoren befolgte Wort des Sherlock Holmes hätte auch Monsieur Dupin in den Mund gelegt werden können: ›Es ist eine meiner alten Maximen: Was übrigbleibt, wenn man das Unmögliche ausgeschlossen hat, muß die Wahrheit sein, so unwahrscheinlich sie sich auch ausnehmen mag‹ (›Die Beryll-Krone‹).
Conan Doyle war ein eifriger Leser, auch von Autoren, deren Romane und Erzählungen keinen Anspruch auf hohen literarischen Wert erheben konnten. So weisen zum Beispiel seine Tagebücher von 1885 und 1886 aus, daß er sich in diesen Jahren fast ausschließlich der Lektüre von Detektivgeschichten hingab, die in der Nachfolge Poes in England, Frankreich und Amerika in Mode gekommen waren, und in einem Interview mit der ›Westminster Gazette‹ antwortete er am
13.12.1900 auf die Frage, wie er dazu gekommen sei, ›Späte Rache‹ zu schreiben und damit Sherlock Holmes in die Literatur einzuführen: ›Damals, um das Jahr 1886, hatte ich einige Detektivgeschichten gelesen und stieß mich an dem Unsinn, den sie verzapften – um es mild auszudrücken –, weil die Autoren bei der Auflösung des Geheimnis ses sich immer von irgendwelchen Zufällen abhängig machten. Ich nahm daran Anstoß, weil mir das als ein nicht faires Spiel vorkam; denn der Detektiv sollte seinen Erfolg etwas verdanken, das seinen eigenen Überlegungen entsprang und nicht einfach zufälligen Umständen, die sich im wirklichen Leben ohnehin nicht ergeben.‹
Unter den Autoren, deren Bücher er damals las, finden sich neben den Verfassern von eher dem Irrationalen als der sachlichen Aufklärung haarsträubender Verbrechen dienenden englischen Schauergeschichten, den ›gothic novels‹, auch Wilkie Collins, dessen dickleibige ›Sensationsromane‹, wie diese Gattung damals genannt wurde, ›Die Dame in Weiß‹ (›The Woman in White‹, 1860), ›Armandale‹ (1864) und ›Der Mondstein‹ (›The Moonstone‹, 1868) über England hinaus Furore machten, Anna Katherine Green, die mit ›Der Fall Leavenworth‹ (›The Leavenworth Case‹, 1878) den Anstoß für eine geradezu explosive Entwicklung der Kriminalliteratur in den USA gegeben hatte, und der Amerikaner John Russell Coryell, der Schöpfer des Detektivs Nick Carter, des ersten erfolgreichen Serienhelden des Genres. Und Doyle las natürlich die Romane von Emile Gaboriau, dem erfolgreichsten KriminalromanVerfasser, dessen Werke weltweite Verbreitung fanden und auch von Gebildeten gelesen wurden. (Mommsen und Tschechow waren zum Beispiel Verehrer Gaboriaus). In den detektivischen Abenteuern um den Privatier Père Tabaret und den Polizisten Lecoq, der Vidoq, dem Begründer der ›Po lice de sûreté‹ nachgestaltet war, verband Gaboriau die von Poe übernommene Methode der ›ratiocination‹ mit den damals gängigen polizeilichen Aufklärungspraktiken, über die er als langjähriger Reporter und dank guter Verbindungen zur Pariser Polizei wie kein zweiter Bescheid wußte, und der nach dem Muster von Dumas fils und anderer Boulevardschriftsteller geschneiderten Darstellung des gesellschaftlichen Lebens der ›belle époque‹. So entstand, als Ergänzung zur KriminalErzählung Poes, die in einer lupenreinen Denkwelt angesiedelt ist, der KriminalRoman, der durch Einbeziehung sozialer und psychologischer Komponenten, durch Aufnahme von sentimentalen und amourösen Episoden ein – wie auch immer gefärbtes – Abbild der Gesellschaft mitlieferte. Conan Doyle hat Gaboriau geschätzt, sich jedoch schon beim ersten Auftreten seines Sherlock Holmes in ›Späte Rache‹ von ihm zu distanzieren gesucht, wahrscheinlich, um nicht als Epigone des weltbekannten Franzosen angesehen zu werden: Holmes erklärt Watson gegenüber, er ziehe Dupin allemal Lecoq vor (›Lecoq war ein Stümper. Dupin war besser‹, schrieb Doyle lapidar in einer Skizze zu dem Roman). Und in der Tat ist Holmes eher Dupin verwandt als Lecoq oder Père Tabaret, die – und das macht einen großen Teil des Reizes aus, der von ihnen ausgeht – nicht immer ›den geraden Weg zur Wahrheit‹ einschlagen und deren Neigung zu Irrtümern und Fehlschlüssen dem Poe-Schüler Doyle fatal vorkommen mußte. Immerhin kann jedoch fast mit Sicherheit ange nommen werden, daß die kriminologische Kleinarbeit, der sich Holmes trotz aller Genialität im Schlußfolgern geduldig hingibt, durch Gaboriaus Romane zumindest angeregt worden ist. Denn nach dessen erstem Beitrag zum Genre, ›Der Fall Lerouge‹ (›L’affaire Lerouge‹, 1866), der mit detaillierten Schilderungen polizeilicher Untersuchungsmethoden aufwartet, hätte ein Anknüpfen an die eher romantischen und mehr oder weniger vom Zufall bestimmten Wege der Aufklärung, wie sie von Collins und Mrs. Green bevorzugt wurden, einen Rückfall auch hinter die Kriminaltechnik der Zeit bedeutet, die vor allem durch das anthropometrische System Bertillons zur Identifizierung von Verbrechern und die Anfänge der Daktyloskopie einen bemerkenswerten Aufschwung erlebte.
Es ist seit den Anfängen der ›Holmesologie‹ eine beliebte und stets aufs neue aufgeworfene Frage, welche realen Persönlichkeiten neben den literarischen Vorbildern das Modell für den Meisterdetektiv und seinen Begleiter Watson abgegeben haben könnten. Doyle selbst hat auf Dr. Joseph Bell hingewiesen, einen Chirurgen am Edinburgher Hospital, den er in seinen Studienjahren kennengelernt hatte. Dieser Dr. Bell war bekannt für seine scharfen Beobachtungen und Schlußfolgerungen, mit denen er seine Patienten, deren Berufe er erriet, verblüffte. Und in der Tat erinnern seine Methoden, mit denen er zum Beispiel einen Mann als Pflasterer dadurch identifizierte, daß nur eines seiner Hosenbeine an der Innenseite des Knies abgeschabt war, oder einen kurz zuvor aus der Armee entlassenen Soldaten dadurch, daß dieser den Hut beim Betreten des Zimmers nicht abnahm, sehr stark an die Sherlock Holmes’, der es sich in mehreren Fällen angelegen sein läßt, anhand von Gegenständen – einem Hut oder einem Pincenez – die Eigenheiten ihrer Besitzer zu rekonstruieren, und der Watson immer wieder damit in Erstaunen versetzt, daß er dessen Gedanken oder Absichten oder vorausgegangene Handlungen an kaum auffallenden Kleinigkeiten abliest. Doch damit endet bereits die Verwandtschaft von Holmes mit dem Edinburgher Arzt, und dieser hat denn auch zu Recht Doyles Verweis auf ihn mit der Bemerkung beantwortet, der Schriftsteller schulde ihm in bezug auf Charakter und Konstruktion seines Helden weniger, als er annehme. Als weiteres mögliches Vorbild wurde George Budd ermittelt, ein Mediziner, den Doyle im letzten Studienjahr kennenlernte und mit dem er sich nach Beendigung des Studiums für kurze Zeit in einer Arztpraxis assoziierte. Budd war ein sportlicher Mann, dazu unternehmungslustig, flink im Auffassen von Ideen und im Erkennen und Analysieren von Situationen und hätte auch mit seiner Zähigkeit und Energie, die er in allem, was er unternahm, an den Tag legte, Pate bei der Holmes-Figur gestanden haben können. Doch bleibt solche Spekulation wie alle, die von ›Holmesologen‹ angestellt worden sind, unfruchtbar, weil aufs Anekdotische beschränkt. Mit Sicherheit ist nur festzustellen, daß Doyle den Namen seines Detektivs dem 1894 gestorbenen amerikanischen Lyriker und Essayisten Oliver Wendell Holmes verdankt, den er sehr verehrte. Der Vorname ›Sherlock‹ ist möglicherweise eine Anspielung auf den Ort Sherlockstown in dem Teil Irlands, aus dem Doyles Vorfahren stammten.
Ähnlich müßig sind die Vermutungen über die Herkunft der Figur Watsons, des Arztes, der längere Zeit Militärdienst in Asien geleistet hat, ehe er sich zum Praktizieren in London niederläßt. Hier schwanken die Annahmen, wer Vorbild gewesen sein könnte, vor allem zwischen Doyles Berufskollegen James Watson, der gleich ihm um 1890 Mitglied der ›Literary and Scientific Society‹ in Portsmouth war, und Major Wood, einem guten Freund Doyles, der sein Sekretär wurde und den er wegen seines offenen, geradlinigen Charakters sehr schätzte.
1 comment