Von nun an begleitete Sherlock Holmes wieder Doyles Leben, ließ seine Popularität und sein Konto ins Unermeßliche steigen, drängte sich immer wieder in die Produktion der Bücher, die Doyle für viel wichtiger als die kriminalistischen Episoden hielt.

  Bis zur April-Ausgabe des ›Strand Magazine‹ im Jahre 1927 wurden noch dreiunddreißig Geschichten veröffentlicht, die zudem in drei Buchausgaben erschienen: ›Die Wiederkehr von Sherlock Holmes‹ (›The Return of Sherlock Holmes‹, 1905), ›Der letzte Streich von Sherlock Holmes‹ (›His Last Bow‹, 1917) und ›Das Notizbuch von Sherlock Holmes‹ (›The Case Book of Sherlock Holmes‹, 1927). In dieser Nummer des ›Strand Magazine‹ verabschiedet sich Conan Doyle von seinen Lesern, dankt ihnen für ihre Ausdauer und gibt der Hoffnung Ausdruck, daß die Gestalt des Sherlock Holmes sie ein wenig von den Sorgen des Lebens habe ablenken können.

  Der Kriminalfall als Gegenstand der Unterhaltung, als Möglichkeit, sich von den Sorgen des Lebens ablenken zu lassen? Es hat nie an Stimmen gefehlt, die den ›Krimi‹ von moralischen Positionen aus attackierten, die sein Ziel, durch das Verbrechen und seine Aufklärung Spannung und Vergnügen zu erzeugen, als makaber denunzierten, die ihm einen literarischen Eigenwert absprechen zu können glaubten. Ihnen gegenüber steht die große und, wie es scheint, ständig wachsende Schar der Liebhaber dieses Genres, aus der sich immer wieder Befürworter finden, die auf die lange und große Tradition der Kriminal-Literatur hinweisen, die bis zu den griechischen Mythen und zur Bibel zurückzuverfolgen sei. Oder kann man etwa nicht das Mord- und Inzestgeschehen um König Ödipus dem Stoff und seiner analytischen Struktur nach einem heutigen Kriminalroman an die Seite stellen? Oder der junge Prophet Daniel aus dem Alten Testament, ist er nicht der erste Detektiv der Weltliteratur? Immerhin überführt er durch geschicktes Verhören die beiden ›lüsternen Greise‹, die sich der schönen Susanna im Bad mit unsittlichen Anträgen näherten und sie, als sie sich standhaft zeigte, als Ehebrecherin verleumdeten und vor Gericht stellten; immerhin weist er bei anderer Gelegenheit durch ›Spurensicherung‹ und ›Spurenauswertung‹, um Termini der moder nen Kriminologie zu verwenden, den Priestern des Bel nach, daß sie selber und nicht der Götze die Schüsseln mit den Speisen und die Weinkrüge leerten, die von Anbetern dargebracht worden waren. Der Prophet als Detektiv: das klingt beeindruckend. Aber es bleibt im Grunde nur ein müßiges Spiel, das mit solcher Genealogie zum höheren Ruhm des ›Krimis‹ getrieben wird, indem man etwa auf den antiken Muttermörder Orest als Ahnen verweist oder sich mit Dostojewskis Raskolnikow aus dem Roman ›Schuld und Sühne‹ schmückt, den übrigens Thomas Mann in Verkennung des Genres ›den größten Kriminalroman der Weltliteratur‹ genannt hat. In beiden Fällen wird das Verbrechen unter einem jeweils anderen Aspekt und mit einem jeweils anderen Ziel dargestellt als durch die belletristischen Erzeugnisse, die hierzuland als Kriminalroman oder Kriminalerzählung, in der anglo-amerikanischen Welt als ›crime story‹ oder ›detective story‹ und in Frankreich allgemein als ›roman policier‹ firmieren. Die Verbrechergestalten der Antike – der Vatermörder (Zeus, Ödipus), der Muttermörder (Orest), die Gattenmörderin (Klytämnestra), die Kindesmörderin (Medea), der Brudermörder (Kain, Polyneikes) – sind dichterische Topoi, in denen sich die Auflösung gentiler Bande spiegelt oder soziale Umbruchsituationen durch normenwidrige oder auch neue Normen setzende Gewalt signalisiert werden. Das muß verstanden werden, wenn das vorgestellte Geschehen mehr vermitteln soll als die simple Erkenntnis, daß im Klassenstaat das Verbrechen seit eh und je existiert und interessiert hat – womit nichts gewonnen wäre, auch nichts in bezug auf eine mögliche Ahnenreihe des ›Krimis‹.

  Genauso ist zu beachten, daß das seit dem 18. Jahrhundert in der bürgerlichen Literatur sich verstärkt artikulierende Interesse an den psychologischen und sozialen Wurzeln des Verbrechens und am Verbrecher als einem Außenseiter der Gesellschaft die Kriminal- und Detektivliteratur im heutigen Verständnis nicht wesentlich berührt. Die Eingangsworte Schillers zu seiner Fragment gebliebenen Erzählung ›Der Verbrecher aus verlorener Ehre‹, daß nämlich kein Kapitel in der Geschichte der Menschen ›unterrichtender für Herz und Geist‹ sei ›als die Annalen seiner Verirrungen‹, weisen in eine andere Richtung. Das Verbrechen und der Verbrecher erfuhren mit der Durchsetzung bürgerlichen Denkens und bürgerlicher Normen gegen das mittelalterliche, theologisch ausgerichtete Verständnis des Verbrechens als Beleidigung Gottes und des Verbrechers als Sünder eine Säkularisierung, die in dem Maß die Anteilnahme am Schicksal des Verbrechers steigen ließ, wie der mündig gewordene Mensch generell ins Zentrum der Betrachtung rückte. (Alexander Popes ›Versuch vom Menschen‹ [›Essay on Man‹] aus dem Jahre 1733 umschreibt diese Haltung am prägnantesten mit dem Kernsatz: ›Die eigentliche Bemühung der Menschheit gilt dem Menschen‹ – ›The proper study of mankind is man‹). Von hier aus bestimmt sich auch die Rolle des Verbrechens und des Verbrechers in der Belletristik: Sie dienen der Selbst- und Gesellschaftserfahrung, sind eben ›unterrichtend für Herz und Geist‹ – eine Zielsetzung, auf die auch die Sammlung berühmter Kriminalfälle durch François Gayot de Pitaval zurückzuführen ist, die seit 1733 unter dem Titel ›Causes célèbres et intéressantes‹ erschienen und die deutsch bezeichnenderweise als ›Merkwürdige Rechtsfälle als ein Beitrag zur Geschichte der Menschheit‹ mit einer Vorrede von Schiller in Auswahl (1792 – 1795) herausgegeben wurde.

  Der Verbrecher aber nimmt in den heute landläufigen Kriminalromanen und -geschichten nicht die zentrale Position ein. Er tritt an den Rand des Geschehens, wie übrigens auch sein Opfer, das oft nicht einmal auftritt oder doch nur kurz als handelndes Subjekt vorgestellt wird, dessen kompositorische Funktion darauf beschränkt ist, auslösendes Moment für die Recherche zu sein, und dessen Psyche und vorangegangene Existenz vor allem insofern von Bedeutung sind, als sie Hinweise auf das Motiv geben, das dem Verbrechen zugrunde liegt, und damit zur Lösung des ›Falls‹ beitragen können. Das Verbrechen ist aus der Sphäre einer persönlichen oder gesellschaftlichen Katastrophe in die Qualität einer weitgehend wertneutralen, lediglich zu klärenden Angelegenheit übergeführt worden; der Verbrecher verkörpert nicht mehr den miserablen oder mitleidverdienenden oder sympathiefordernden Outsider, sondern vor allem, wenn nicht ausschließlich, die Instanz, die ein Geheimnis (eben daß er der Verbrecher ist) in ihrem Besitz hält und die im übrigen alles Interesse daran hat, daß dieses Geheimnis nicht gelüftet wird. Er ist gewissermaßen die Sphinx, die dem ›detective‹, dem Aufklärer, die Aufgabe stellt. Der Detektiv aber erweist sich als der eigentliche Held des Spiels, als der Mann, der – sei es in Gestalt des Vertreters der gesellschaftlichen Macht, deren Norm gebrochen wurde, oder des Privatmanns, der sich aus eigenem Antrieb oder nach Auftrag der Recherche annimmt – sich daran macht, das Geheimnis zu enträtseln. Und sein Ruhm leuchtet um so heller, und die Anteilnahme des Lesers ist um so intensiver, desto besser das Geheimnis gehütet und desto aussichtsloser sich zu Beginn der Versuch ausnimmt, Klarheit zu erlangen.

  Als Vater dieses Grundschemas gilt mit Recht Edgar Allan Poe, der mit der Erzählung ›Der Doppelmord in der Rue Morgue‹ (›The Murders in the Rue Morgue‹, 1841) die erste und bis heute beispielgebende Probe für diese Art von Literatur gegeben hat. Er stellte dieser ersten von drei Erzählungen, die sich mit Kriminalfällen befassen, ein bemerkenswertes Motto aus der ›Urnenbestattung‹ des englischen Philosophen Thomas Browne voran: ›Welches Lied die Sirenen sangen oder welchen Namen Achilles annahm, als er sich unter Weibern verborgen hielt, sind zwar schwierige Rätsel, doch nicht jeder Mutmaßung unzugänglich.‹ Unter dieser Devise läßt er seinen Detektiv, den Monsieur C. Auguste Dupin – den ersten wirk lichen Detektiv der Weltliteratur, trotz des biblischen Daniel und manch anderer scharfsinniger Figuren aus den Literaturen der Völker von China bis Frankreich und England –, an die Aufklärung eines geheimnisvollen Mordes an zwei Frauen gehen. Dessen Aktivität beschränkt sich nun im wesentlichen darauf, die Umstände, in denen man die Leichen in der Rue Morgue vorfand, und die unklaren Berichte von Leuten aus der Nachbarschaft so der analysierenden und schlußfolgernden Ratio und einer ans Wunderbare grenzenden Beobachtungsgabe zu unterziehen, daß mit fast mathematischer Sicherheit die im verborgenen liegenden Geschehnisse ans Licht kommen müssen. ›… erst in Dingen‹, konstatiert Poe in der Einleitung der Erzählung, in der er sich über die Gewinnchancen eines tüchtigen Whist- oder Damespielers ausläßt, ›die über die Grenzen der bloßen Regel hinausgehen, erweist sich die Geschicklichkeit des Analytikers. Er macht stillschweigend eine Menge von Beobachtungen und zieht daraus seine Schlüsse. Auch seine Mitspieler tun es vielleicht, aber der Unterschied in der Tragweite der erlangten Kenntnis liegt nicht so sehr in der Richtigkeit seiner Schlüsse als in der Schärfe der Beobachtung.‹

  Diese Erzählung stellt gewissermaßen die Detektivgeschichte in nuce dar, und in wie vielen Gestalten sich auch seitdem der Rechercheur in der Literatur gezeigt hat, in wie viele rare und seltsame Attitüden er sich auch geworfen haben, mit welchen Eigenheiten er auch aufgetreten sein mag: Die Verwandtschaft mit Monsieur Dupin läßt sich kaum verleugnen.