Offensichtlich sind die Schnitte von jemandem verursacht worden, der sehr unvorsichtig den Sohlenrand abgekratzt hat, um getrockneten Schlamm zu entfernen. Daher, mein Lieber, meine zweifache Schlußfolgerung, daß Sie erstens in schlechtes Wetter geraten sind und daß Sie zweitens ein besonders bösartiges, schuhzerschneidendes Exemplar aus der Londoner Dienerschaft hatten. Und was Ihre Praxis angeht: Wenn ein Herr ins Zimmer kommt und nach Jodoform riecht, einen schwarzen Fleck vom Silbernitrat am rechten Zeigefinger hat und seitlich am Hut eine Beule, die verrät, wo er sein Stethoskop untergebracht hat, müßte ich wirklich dumm sein, wenn ich ihn nicht als ein praktizierendes Mitglied der ärztlichen Zunft ansprechen würde.«

  Ich mußte über die Leichtigkeit lachen, mit der er den Prozeß seiner Schlußfolgerung erklärte. »Wenn Sie das Ergebnis Ihrer Beobachtungen vortragen«, bemerkte ich, »so bin ich jedesmal im ersten Augenblick verblüfft. Aber wenn Sie mich dann den Gang Ihrer Beweisführung hören lassen, dann erscheint mir alles so lächerlich einfach, daß ich selber hätte darauf kommen können. Und doch glaube ich, daß meine Augen so gut sind wie die Ihren.«

  »Ganz recht«, antwortete er, zündete sich eine Zigarette an und warf sich in einen Sessel. »Sie sehen, aber Sie beobachten nicht. Der Unterschied liegt klar zutage. Zum Beispiel haben Sie doch häufig die Stufen gesehen, die von der Halle herauf in dieses Zimmer führen.«

  »Ja, häufig.«

  »Wie oft?«

  »Nun, einige hundert Male.«

  »Wie viele sind es denn?«

  »Wie viele? Ich weiß es nicht.«

  »Das ist es! Sie haben nicht beobachtet. Und doch haben Sie gesehen. Darauf kommt es an. Nun, ich weiß, daß es siebzehn Stufen sind, weil ich gesehen und beobachtet habe. Übrigens: Da Sie sich für solche kleinen Probleme erwärmen und da Sie so freundlich waren, über eine oder zwei meiner unbedeutenden Erfahrungen zu berichten, könnten Sie sich möglicherweise hierfür interessieren.«

  Er reichte mir ein Blatt schweren, rosafarbenen Briefpapiers, das offen auf dem Tisch gelegen hatte. »Es ist mit der letzten Post gekommen«, sagte er. »Lesen Sie laut.«

  Der Brief war undatiert, hatte weder Unterschrift noch Adresse:

  ›Heute abend Viertel vor acht‹, stand da, ›wird ein Herr bei Ihnen vorsprechen, der in einer Sache von äußerster Wichtigkeit Ihren Rat einholen möchte. Ihre neulich einem der Königshäuser Europas geleisteten Dienste haben erwiesen, daß man Ihnen bedenkenlos Angelegenheiten anvertrauen kann, deren Wichtigkeit nicht hoch genug anzusetzen ist. Dieser Ihr Ruf wurde uns von allen Seiten bestätigt. Seien Sie zu der angegebenen Zeit in Ihrem Zimmer und nehmen Sie keinen Anstoß daran, wenn Ihr Besucher eine Maske trägt.‹

  »Das ist wahrlich geheimnisvoll«, bemerkte ich. »Was, glauben Sie, mag das bedeuten?»

  »Ich habe noch keine Prämissen. Es ist ein schwerer Fehler, wenn man theoretisiert, ohne Prämissen zu haben. Unmerklich fängt man dann nämlich an, Tatsachen zurechtzubiegen, sie Theorien anzupassen, statt die Theorien nach Tatsachen zu bilden. Aber zum Brief. Was schließen Sie aus ihm?«

  Sorgsam prüfte ich die Schrift und das Papier, auf dem sie stand.

  »Der Mann, der das geschrieben hat, ist vermutlich wohlhabend«, bemerkte ich, bestrebt, das Vorgehen meines. Freundes nachzuahmen. »Papier der Art kann man nicht unter einer halben Krone je Bogen kaufen. Es ist eigentümlich stark und steif.«

  »Eigentümlich – das ist das treffende Wort«, sagte Holmes. »Es ist ganz bestimmt kein englisches Papier. Halten Sie es gegen das Licht.«

  Das tat ich und sah ein großes E mit einem kleinen G, ein P und ein großes G mit einem kleinen T in die Struktur des Papiers eingelassen.

  »Was halten Sie davon?« fragte Holmes.