Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge
Rainer Maria Rilke
Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge
Roman
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Ich sehe seit einer Weile ein, daß ich Menschen, die in
der Entwicklung ihres Wesens zart und suchend sind, streng davor
warnen muß, in den Aufzeichnungen Analogien für das zu
finden, was sie durchmachen; wer der Verlockung nachgibt und diesem
Buch parallel geht, muß notwendig abwärts kommen;
erfreulich wird es wesentlich nur denen werden, die es
gewissermaßen gegen den Strom zu lesen unternehmen.
Diese Aufzeichnungen indem sie ein Maß an sehr
angewachsene Leiden legen, deuten an, bis zu welcher Höhe die
Seligkeit steigen könnte, die mit der Fülle dieser selben
Kräfte zu leisten wäre.
R.M.R (Aus den Briefen vom Februar 1912) II. September, rue
Toallier.
So, also hierher kommen die Leute, um zu leben, ich würde
eher meinen, es stürbe sich hier. Ich bin ausgewesen. Ich habe
gesehen: Hospitäler. Ich habe einen Menschen gesehen, welcher
schwankte und umsank. Die Leute versammelten sich um ihn, das
ersparte mir den Rest. Ich habe eine schwangere Frau gesehen. Sie
schob sich schwer an einer hohen, warmen Mauer entlang, nach der
sie manchmal tastete, wie um sich zu überzeugen, ob sie noch
da sei. Ja, sie war noch da. Dahinter? Ich suchte auf meinem Plan:
Maison d'Accouchement. Gut. Man wird sie entbinden--man kann das.
Weiter, rue Saint-Jacques, ein großes Gebäude mit einer
Kuppel. Der Plan gab an Val-de-grâce, Hôspital
militaire. Das brauchte ich eigentlich nicht zu wissen, aber es
schadet nicht. Die Gasse begann von allen Seiten zu riechen. Es
roch, soviel sich unterscheiden ließ, nach Jodoform, nach dem
Fett von pommes frites, nach Angst. Alle Städte riechen im
Sommer. Dann habe ich ein eigentümlich starblindes Haus
gesehen, es war im Plan nicht zu finden, aber über der
Tür stand noch ziemlich leserlich: Asyle de nuit. Neben dem
Eingang waren die Preise. Ich habe sie gelesen. Es war nicht
teuer.
Und sonst? ein Kind in einem stehenden Kinderwagen: es war dick,
grünlich und hatte einen deutlichen Ausschlag auf der Stirn.
Er heilte offenbar ab und tat nicht weh. Das Kind schlief, der Mund
war offen, atmete Jodoform, pommes frites, Angst. Das war nun mal
so. Die Hauptsache war, daß man lebte. Das war die
Hauptsache.
Daß ich es nicht lassen kann, bei offenen Fenster zu
schlafen. Elektrische Bahnen rasen läutend durch meine Stube.
Automobile gehen über mich hin. Eine Tür fällt zu.
Irgendwo klirrt eine Scheibe herunter, ich höre ihre
großen Scherben lachen, die kleinen Splitter kichern. Dann
plötzlich dumpfer, eingeschlossener Lärm von der anderen
Seite, innen im Hause. Jemand steigt die Treppe. Kommt, kommt
unaufhörlich.
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