Er hatte Grundbesitz in London - drei kleine Häuser in Bermondsey, und bis zu seinem Tode wußte niemand, daß er verheiratet war, das heißt, man wußte nicht, daß er zum zweitenmal geheiratet und dabei die Formalität, sich von seiner ersten Frau scheiden zu lassen, unterlassen hatte. Er hinterließ ein Testament, und jetzt scheint sich ein Rechtsstreit zu entwickeln.«
Das Interesse für den verstorbenen Mr. Wallis hielt nicht lange an. Miss Revelstoke warf einen abschätzenden Blick auf ihre Sekretärin.
»Sie haben einen großen Eindruck in Marlow hinterlassen, meine Liebe! Monkford hat mich eben vorhin ganz kurz angerufen. Er zeigte sich äußerst entzückt über Ihren Charme und Ihr Benehmen.«
»Über mich?« fragte Nora verblüfft. »Er hat mich ja kaum angeschaut! Er war doch völlig vom ›Schwarzen Schicksal‹ in Anspruch genommen.«
»Entschuldigen Sie - von was für einem ›Schwarzen Schicksal‹?« fragte Mr. Henry.
Miss Revelstoke beschrieb in ihrer knappen, sarkastischen Art die Bildsäule, die sie dem Bankier überlassen hatte. Ohne Übergang fragte sie Nora:
»Sie haben also die Bekanntschaft Jackson Crayleys gemacht?
Was für einen Eindruck haben Sie von ihm?«
»Er ist nicht sehr eindrucksvoll«, sagte Nora diplomatisch.
»Das will ich meinen«, warf Mr. Henry unwillig ein. »Tatsächlich kenne ich kaum einen weniger imponierenden Menschen.«
»Er führt ein absolut selbstsüchtiges Leben«, ergänzte Miss Revelstoke. »O ja, ich kenne ihn sehr genau.«
Anscheinend hatten weder der Rechtsanwalt noch die alte Dame für Mr. Crayley viel übrig. Als die Unterhaltung zu versickern begann, tat Nora etwas, das sie nachher bereute. Sie erwähnte die Bande des Schreckens. Warum sie es nicht hätte tun sollen, wußte sie zwar nicht genau, doch hatte sie das unangenehme Gefühl, daß Arnold Longs Geschichte sozusagen nur vertraulich gemeint gewesen war, und daß sie nun sein Vertrauen mißbrauchte. Sofort versuchte sie, ihren Fehler gutzumachen und die Unterhaltung wieder auf Mr. Monkford zu lenken. Die dunklen Augen Miss Revelstokes beobachteten sie scharf.
»Ich fürchte, dieser Polizist hat einen nachhaltigen Eindruck auf Sie gemacht, denn - Sie scheinen bereits zu bedauern, daß Sie uns etwas über diese Bande des Schreckens erzählen wollten, nicht wahr?«
Nora errötete. Diese seltsame Frau besaß die außerordentliche Gabe, andere zu durchschauen und ihre Gedanken zu lesen.
Mr. Henry lächelte vielsagend.
»Sie brauchen sich wirklich keine Sorgen darüber zu machen, Miss Sanders, wenn Sie uns dieses Geheimnis verraten. Ich habe auch schon davon raunen hören. Die Sache ist jedoch zu widersinnig, um noch Worte darüber zu verlieren. Shelton, über dessen Leben ich mehr oder weniger genau unterrichtet bin -ich habe, außer Scotland Yard, wahrscheinlich das umfangreichste Aktenmaterial über ihn -, arbeitete unbedingt auf eigene Faust. Er hatte keine Freunde, keine Verwandten und keine vertrauten Mitarbeiter. Dies ist der Grund, warum er sich lange Jahre hindurch die Polizei vom Leibe halten konnte. Organisierte Rache ist in unserem Lande unbekannt. Und wer hätte auch ein Interesse daran, Rache zu nehmen am Richter, am Staatsanwalt und am Henker, also an den dreien, die Shelton seinem Schicksal zuführten. Allenfalls könnten es Leute sein, die eine persönliche Bindung zu ihm hatten - seine Verwandten und Freunde. Wir wissen aber, daß er in der ganzen Welt keine Freunde und Verwandten besaß.«
Miss Revelstoke seufzte.
»Dafür sollte er jetzt noch dankbar sein!«
»Vendetta ist hierzulande unbekannt«, fuhr Mr. Henry fort, »und es ist ganz undenkbar, daß Männer ihr Leben aufs Spiel setzen, nur um einen toten Fälscher zu rächen, der sie nicht mehr dafür belohnen kann, nicht mal mit seiner Dankbarkeit.« »Hat Ihnen Mr.
1 comment