Die Betschwester

Christian Fürchtegott Gellert
Die Betschwester
Lustspiel
Zeno.org
Personen.
Frau Richardin, eine alte und reiche Witwe.
Christianchen, ihre Tochter.
Lorchen, ihre weitläuftige Befreundinn.
Simon, Christianchens Bräutigam.
Ferdinand, Simons Brautwerber.[446]
Erster Aufzug
Erster Auftritt
Jungfer Lorchen. Herr Ferdinand.
LORCHEN. Was ich Ihnen sage. Sie können die Frau Muhme itzt nicht sprechen. Sie hat ihre Andacht. Und ich wollte nicht viel nehmen; im engeren Sinn ist Geld nehmen = sich bestechen lassen (Adelung.)
FERDINAND. Mein Gott! die gute Frau. Ich mag kommen, wenn ich will, so hat sie ihre Andacht. Heute Vormittage wollte ich zu ihr; da war Betstunde. Nun komme ich nach Tische; so hat sie wieder ihre Betstunde.
LORCHEN. Es ist nicht anders. Ihr Leben ist ein beständiges Gebet.
FERDINAND. Das Beten ist ein wichtiges Stück der Religion. Allein es gibt ja noch andere Pflichten, die ebenso nötig und ebenso heilig sind. Sie wird doch nicht Tag und Nacht beten, das will ich nicht hoffen.
LORCHEN. Nein, sie wechselt ab. Wenn sie nicht beten will: so singt sie. Und wenn sie nicht mehr Lust zum Singen hat: so betet sie. Und wenn sie weder beten noch singen will: so redet sie doch vom Beten und Singen.
FERDINAND. Nun, das muß ich bekennen. Ich habe mir wohl sagen lassen, daß meine Frau Muhme sehr fromm ist. Ich habe es auch geglaubt. Allein ihr stetes Beten und Singen bringt mich fast auf die Gedanken, daß sie nicht fromm ist, sondern nur fromm scheinen will. Sie möchte sich immer ein Gebet machen lassen, um des Abends die Sünde zu verbeten, die sie den Tag über mit Beten und Singen begeht. Stets beten, heißt nicht beten, und den ganzen Tag beten, ist so strafbar, als den ganzen Tag schlafen.
LORCHEN. Mein lieber Herr Ferdinand, lassen Sie doch Ihren Eifer nicht an mir aus. Sie kennen mich ja wohl, da ich ehemals die Ehre gehabt, einige Zeit in Ihrem Hause zu leben. Es ist niemand weniger mit der Andacht der Frau Muhme zufrieden als ich. Sie betet uns oft um das Mittagsessen; und nie ist sie andächtiger, als um die Stunde, da die Köchin das Marktgeld holen will. Sie hat ihr schon aus frommem Eifer zweimal das Gebetbuch an den Kopf geworfen, weil sie so unverschämt gewesen ist und sie im Singen gestört hat.
FERDINAND.
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