Am Nachmittag hatte er noch alles notiert, was sich auf den Fall bezog. Das Notizheft lag auch dort, aber...
Er hätte darauf schwören können, daß er es offen hatte liegenlassen. Er besaß ein gutes Gedächtnis für kleine Nebenumstände. Das Heft hier war nicht nur geschlossen, sondern lag auch an einer anderen Stelle.
Jeden Morgen kam eine Aufwartefrau, die das Bett machte und die Wohnung reinigte. Sie hatte keinen Schlüssel, er ließ sie selbst herein. Gewöhnlich kam sie, wenn er sich das Frühstück zubereitete.
Er öffnete das Notizheft - zwischen den Seiten, dort wo er zu schreiben aufgehört hatte, lag ein Schlüssel, an den ein kleiner Zettel mit der Aufschrift D. G.'s Hauptschlüssel gebunden war.
Jim erkannte die Handschrift; es war die gleiche wie auf der grauen Karte, die Eunice damals gefunden hatte. Das Zeichen der blauen Hand aber fehlte.
Die Dame in Schwarz war also in seiner Wohnung gewesen und hatte ihm den Schlüssel zu Digby Groats Haus in die Hand gespielt!
Er war starr vor Staunen.
15
Eunice wachte am nächsten Morgen unzufrieden auf. Erst als sie ganz munter war, sich im Bett aufsetzte und den feinen Tee trank, den ihr das Mädchen gebracht hatte, kam ihr zum Bewußtsein, warum sie sich in dieser Gemütsverfassung befand, und sie lachte über sich selbst.
Ach, so ist das also, Eunice Weldon! Weil der beste junge Mann, den es auf der Welt gibt, zu anständig, zu rücksichtsvoll oder zu furchtsam war, dich zu küssen, bist du böse und enttäuscht! Außerdem ist es unverzeihlich, einem Mann so weit entgegenzukommen und ihm beinah selbst einen Antrag zu machen! Es ist nicht das Benehmen einer Dame. Du hättest auch nicht die einfache Wohnung in der Nähe der Eisenbahnschienen erwähnen dürfen, sondern dich zufriedengeben und warten müssen, bis er von selbst den Teppich vor deinen Füßen entrollt! Ich glaube übrigens nicht, daß er in seinen Zimmern auf nacktem Fußboden geht, er wird hübsche Teppiche haben, und die Aussicht ist sicher auch nicht so übel, wenn nicht gerade die Züge vorbeirasseln. Und - doch genug jetzt, du mußt aufstehen, Eunice Weldon!
Schnell schlüpfte sie aus dem Bett.
Als Digby Groat durch den Gang kam, hörte er sie im Bade singen. Er lächelte vor sich hin. Er hatte dieses Mädchen aus böser Laune ins Haus geholt - nun weckte sie beinah aufrichtige Gefühle in ihm und wurde ihm täglich unentbehrlicher. Selbst der Umstand, daß er sie heiraten mußte, erschien ihm als kleines Opfer. Sie sollte die Zierde seines Hauses werden!
Jackson sah, wie er lächelnd die Treppe herunterkam.
»Es ist wieder ein Karton Schokolade abgegeben worden«, flüsterte er geheimnisvoll.
»Werfen Sie die Schachtel weg! Oder - geben Sie sie meiner Mutter!«
Jackson starrte ihn an.
»Wollen Sie nicht...«
»Stellen Sie nicht so viele neugierige Fragen, Jackson!« unterbrach ihn Digby wütend. »Sie kümmern sich zu sehr um meine Angelegenheiten. Und wenn wir schon dabei sind, merken Sie sich eins - lassen Sie Ihr verfluchtes Grinsen, wenn Sie mit Miss Weldon reden! Benehmen Sie sich so, wie sich ein Diener einer Dame gegenüber zu benehmen hat! Haben Sie mich verstanden?«
»Ich bin kein Diener«, erwiderte der Mann düster.
»Diese Rolle haben Sie aber jetzt zu spielen - und zwar gut.«
»Ich habe die Dame immer respektvoll behandelt...«
»Bringen Sie mir die Morgenpost ins Speisezimmer«, befahl Digby kurz.
Eunice kam gleich darauf.
»Guten Morgen, Miss Weldon.« Digby schob ihr einen Stuhl an den Tisch. »Haben Sie sich gestern abend gut amüsiert?«
»Oh, ausgezeichnet.« Sie sprach, um ihn abzulenken, sofort von etwas anderem. Er berührte den gestrigen Abend nicht mehr.
Nach dem Frühstück sprach Digby mit dem Arzt, der von seiner Mutter kam. Er erfuhr, daß sie wiederhergestellt sei, ein Rückfall könne zwar eintreten, sei aber unwahrscheinlich. Er wollte heute morgen unbedingt mit seiner Mutter sprechen.
Sie saß im Rollstuhl am Fenster, zusammengekauert, eine unansehnliche Gestalt. Ihre dunklen Augen starrten abwesend auf das Teppichmuster. Ihre Gedanken beschäftigten sich mit Eunice Weldon. Sie tat es völlig unbeteiligt, ohne irgendein Gefühl für das Mädchen. Wenn Digby sie haben wollte, mochte er sie nehmen. Ihr Schicksal interessierte sie nicht mehr als die Fliege, die an der Fensterscheibe summte. Zwar wäre es besser gewesen, wenn sie überhaupt nicht hier gewesen wäre, die Narbe am Handgelenk - sie war bedeutend größer als ein Halbschillingstück, wahrscheinlich ein Zufall, alles ein ... Hauptsache, wenn Digby sich jetzt mit ihr beschäftigte und sie selbst in Ruhe ließ - wenn er keine Zeit hatte, zu ihr zu kommen, sich um sie zu kümmern. Sie fürchtete sich entsetzlich vor ihm. Sie wußte, daß er sie wie eine Kerze auslöschen, aus dem Weg räumen würde, sobald er es für vorteilhaft hielte.
1 comment