Bevor er sie wieder erreichen konnte, hatte sie den Baderaum erreicht und die Tür zugeriegelt. Minutenlang stand er davor und forderte Einlaß. Langsam trat er ins Zimmer zurück, blieb vor dem Spiegel stehen und betrachtete sich.
»Sie hat mich geschlagen!« murmelte er. Er war kreidebleich. »Geschlagen!« Er lachte böse. Das sollte sie büßen!
Er verließ das Zimmer, schloß die Tür ab. Er hielt noch die Hand auf der Klinke, als er ein Geräusch hörte und den Gang entlangsah. Seine Mutter stand vor ihrem Zimmer. In befehlendem Ton rief sie:
»Digby, komm her zu mir!«
Er war so erstaunt, daß er gehorchte und ihr ins Zimmer folgte.
»Was willst du von mir?«
»Schließ die Tür und setz dich!«
Es war schon über ein Jahr her, daß sie so mit ihm gesprochen hatte!
»Was, zum Teufel, bildest du dir ein? Mir hier Befehle zu erteilen ...« »Sei still!«
Nun wurde ihm der Zusammenhang klar.
»Du hast wieder Morphium gehabt, du ... «
»Schweig und setz dich, Digby Estremeda! Ich will mit dir sprechen!«
Sein Gesicht zuckte. »Du - du ...« begann er nochmals.
»Still! Ich will wissen, was du mit meinem Vermögen gemacht hast!«
Er traute seinen Ohren nicht.
»Was hast du mit meinem Vermögen gemacht?« wiederholte sie. »Ich war dumm genug, dir eine Generalvollmacht durch den Notar ausstellen zu lassen. Was hast du damit gemacht? Hast du alles verkauft?«
Er war so überrascht, daß er ihr Rede und Antwort stand.
»Man hat einen Einspruch oder so etwas Ähnliches erhoben, so daß ich nicht verkaufen konnte.«
»Ich hoffte, daß man es tun würde!«
»Was? Was hast du gehofft?« Er fuhr vom Stuhl auf.
Mit einer gebieterischen Handbewegung brachte sie ihn wieder zum Sitzen. Als wäre er aus einem Traum erwacht, fuhr er sich mit der Hand über die Augen. Sie wagte es, ihm zu befehlen - und er gehorchte ihr widerspruchslos! Er selbst hatte ihr Morphium gegeben, um sie zu beruhigen, und nun war sie wieder Herrin der Lage.
»Warum hat man den Verkauf verhindert?«
»Weil dieser verrückte Salter einen Eid darauf leistet, daß das Kind noch lebt - ich meine Dorothy Danton, das kleine Mädchen, das damals in der Nähe von Margate ertrank.«
Es beunruhigte und erstaunte ihn sehr, daß bei dieser Mitteilung ein Lächeln um ihren Mund zuckte.
»Sie lebt!«
»Wer? Wer lebt? Du bist wahnsinnig! Dorothy Danton ist längst tot, vor zwanzig Jahren ertrunken!«
»Ich möchte wissen, was sie wieder zum Leben erweckt hat -und wer hat herausgefunden, daß es Dorothy ist? Du bist an allem schuld, du Narr! Das sind die Folgen deiner niederträchtigen Bosheit!«
»Du wirst mir jetzt alles sagen, was du weißt, oder es wird dir leid tun, daß du überhaupt den Mund aufgemacht hast!«
»Du hast sie gezeichnet - daran hat man sie doch überhaupt erst wiedererkennen können!«
»Was habe ich getan?«
»Erinnerst du dich nicht, Digby?« Sie sprach jetzt schnell, es schien sie zu befriedigen, daß sie ihn treffen konnte. »Es waren einmal ein Baby und ein grausamer kleiner Junge - und der Junge nahm ein Halbschillingstück, erhitzte es über der Flamme und drückte es dem Kind auf das Handgelenk.«
Da dämmerte es langsam in seiner Erinnerung, die ganze Szene von damals kam ihm ins Gedächtnis zurück. Er hörte wieder das Wehgeschrei der Kleinen, sah den großen Raum mit den altmodischen Möbeln, vom offenen Fenster aus konnte man in den Garten blicken - er erinnerte sich an die Spirituslampe, an der er die Münze erhitzt hatte ...
»Mein Gott«, stöhnte er, »jetzt fällt mir alles ein!«
Einen Augenblick schaute er in das häßliche, schadenfrohe Gesicht seiner Mutter, dann stand er rasch auf und verließ das Zimmer.
Als er auf den Gang hinaustrat, hörte er lautes Klopfen an der Haustür. Ein vorsichtiger Blick vom nächsten Fenster aus auf die Straße sagte ihm alles. Jim und der alte Salter standen draußen - und hinter ihnen etwa ein Dutzend Detektive!
Die Haustür würde etwa fünf Minuten standhalten - Zeit genug, um ...
31
Wenig später stand er in Eunice Weldons Zimmer.
»Passen Sie auf, meine Liebe«, sagte er hastig. »Sie brauchen keine Angst zu haben. Ihre Freunde sind draußen und wollen ins Haus einbrechen. In längstens einer halben Stunde sind Sie befreit. Ich will Sie vorher nur in einen Zustand versetzen, der Sie hindert, Aussagen gegen mich zu machen, bis ich aus dem Hause bin und genügend Vorsprung habe. Nein, nein, ich will Sie nicht töten! Sie sind vernünftig genug, um einzusehen, warum ich es tun muß. Sie sind doch so klug, Eunice!«
Sie sah etwas Helles, Glänzendes in seiner Hand und schrak entsetzt vor ihm zurück.
»Rühren Sie mich nicht an! Ich schwöre Ihnen, daß ich nichts verraten will!«
Aber er hatte schon ihren Arm gepackt. Drohend zischte er:
»Wenn Sie schreien oder...«
Sie fühlte einen Stich im Arm und versuchte, ihn zurückzureißen, aber er hielt ihn wie mit einer eisernen Klammer umspannt.
»Nun ist alles gut - es hat doch gar nicht weh getan!« Er lauschte einen Moment und begann zu fluchen. »Sie brechen die Haustür auf!«
»Gehen Sie jetzt?« fragte Eunice.
»In ein paar Minuten gehen wir.« Er betonte das Wir sehr deutlich.
Doch sie schien es nicht zu bemerken. Sie verfiel in einen merkwürdig apathischen Zustand, sie konnte sich kaum noch darauf besinnen, was vor einer Minute geschehen war. Sie setzte sich auf einen Stuhl und streichelte ihren Arm. Daß sie gestochen worden war, wußte sie noch, aber sie spürte keinen Schmerz mehr.
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