66 war damals schon und ist auch heut noch das Büro dieses bekannten Blattes. Ich hatte bald meine Geschäfte abgemacht mit dem Hauptredakteur, dem Doktor Brummer, einem kleinen, quecksilbrigen Individuum mit goldener Brille und roter Perücke – jetzt lange tot –, und schwatzte noch mit den anwesenden Journalisten und den Künstlern beiderlei Geschlechts, die gelobt sein wollten, als plötzlich die Tür aufgerissen wurde und der Doktor Wimmer erschien, begleitet von dem uns nur zu wohl bekannten dicken, hochrotgesichtigen Polizeikommissar Stulpnase. Da sie miteinander eintraten, war es nicht ausgemacht, wer von beiden den andern eigentlich mitschleppe.
»Meine Herren«, schrie, einen gestempelten Bogen schwingend, der Doktor, »ausgewiesen!«
»Ausgewiesen!?« ertönte es im Chor verwundert und fragend.
»Ausgewiesen? Was das sein, Signore dottore?« fragte Signora Lucia Pollastra, die jüngst angekommene Baßsängerin.
»Ausgewiesen – ausgewiesen – das heißt – cela veut dire: -eliminito!« sagte der Hauptredakteur, der alle Sprachen zu kennen glaubte.
»Dio mio!« rief die Sängerin, die so klug als zuvor war.
»Sehen Sie, Wimmer, ich hab's mir gleich gedacht!« schrie eine feine sächsische Stimme, die dem zweiten Redakteur Flußmann aus »Dresen« zugehörte – »wie konnten Sie aber auch das schreiben?«
Der Journalist nahm die letzte Nummer der ›Welken Blätter‹ und las:
... Und wenn alle Esel dieser Maßregel Beifall brüllen sollten: ich kann sie nur »bewimmern«!
»Und er hatte seinen Lohn dahin und wurde selbst gemaßregelt!« sagte der Doktor, welcher sehr gemütlich, den Hut auf einem Ohr, die Zigarre im Munde, auf einem hohen Dreibein saß.
»Ich hätte das deinetwegen schon nicht aufnehmen sollen, Wimmer!« sagte Brummer.
»Dann hättest du ja selbst unter die Beifallsbrüller gehört, Alter!«
Jetzt mischte sich aber die hohe Polizei ein, welche bis dahin stillgeschwiegen und nur mit Würde geschnauft hatte.
»Also in vierundzwanzig Stunden, Herr Doktor...«
»Habe ich das Nest hinter mir, Edelster! Seien Sie unbesorgt!« lachte der Doktor. »Aber halt, Verehrtester, würden Sie mir vielleicht wohl erlauben, Ihnen jetzt noch eine kleine Rede zu halten? – Fritze, Lümmel! Gib dem Herrn Kommissar einen Stuhl!«
Fritze, der unendlich selig grinste, kam dem Gebote nach; die Polizei ließ sich schnaufend nieder, und ihr Opfer – begann:
»Ich habe in Jena studiert, Herr Polizeikommissarius. Das ist eine allgemeinhistorische Tatsache, aber es knüpft sich Bemerkenswertes daran. Damals gab es dort einen raffiniert groben Philister, Deppe genannt, der alle Augenblicke eine sehr drastische Redensart herausdonnerte, übrigens aber der Gott aller der wilden Völkerschaften: Vandalen, Hunnen, Alanen, Viso-, Möso- und Ostrogoten usw. usw. war. Verehrtester Herr Kommissarius, der deutsche Student, viel zu zartfühlend, viel zu sehr von Albertis Komplimentierbuch angekränkelt, konnte unmöglich diese Redensart adoptieren. Ebensowenig aber konnte er auch den Effekt derselben auf Pedelle, Manichäer und dergleichen Gesindel entbehren. Was tat er? – Er deckte Rosen auf den Molch und sagte: Deppe! – Deppe überall! Deppe konnte jeder Rektor magnificus, Deppe jeder Professor, Deppe jede Professorentochter sagen. Also, Herr Polizeikommissarius: Deppe! – 'n Morgen, meine Herren! Addio, Signora Pollastra, brüllen auch Sie wohl! Ich muß packen!«
Damit schob sich der Doktor der Philosophie Heinrich Wimmer und verließ das Expeditionszimmer der »Welken Blätter«, um es nie wieder zu betreten.
Nie aber habe ich ein solches Gesicht wiedergesehen als das des edlen Stulpnase. Sprachlos saß er da; auf einmal aber sprang er auf, stülpte den Dreimaster über und schrie:
»Man soll ja nicht denken, seinen Spaß mit einer hohen Behörde treiben zu können!« Damit stürzte auch er fort.
»Wenn er nur nicht herausbringt, was Deppe heißt!« sagte der Hauptredakteur unter dem unendlichen Gelächter der Redaktion und der Anwesenden, und die Versammlung löste sich auf. –
Nach Hause zurückgekehrt, traf ich die kleine Liese, die bereits aus ihrer Schule heimgekommen war, über einer bunten Pappschachtel an, in welche Martha den Vogel gelegt hatte. Den Doktor hörte ich drüben gewaltig rumoren, und von Zeit zu Zeit erschien er am Fenster, blies eine Rauchwolke zum blauen Sommerhimmel hinauf oder pfiff eine Passage aus dem östreichischen Landsturm, seinem Lieblingsstück. Der kleinen Liese sagte ich von dem Schicksal ihres dicken Freundes noch nichts; ich wollte ihr das Herz nicht noch schwerer machen. Mittags konnte sie schon so vor Betrübnis nichts essen, obgleich sie ihr Butterbrot richtig weggeschenkt hatte. Alle Augenblicke richteten sich ihre Augen auf die bunte Schachtel, worin das tote Tier lag.
Am Abend begruben wir es unter dem blühenden Rosenstrauch zu den Füßen der Gräber von Franz und Marie. Die roten Abendwolken segelten über uns weg, die Rosen dufteten so herrlich, überall Licht und Blumen. Ich saß auf dem Bänkchen neben den Gräbern; Elise hatte ihr Köpfchen an meine Brust gelegt, sie hatte sich so müde getrauert, daß sie – o glückliche Kindheit! – die Augen schloß und einschlummerte.
Eine schöne, ältere, bleiche, schwarzgekleidete Dame kam und kniete an einem einfachen Denkmale nieder; arme Kinder legten, weiter weg an der Kirchhofsmauer, Walblumenkränze auf das Grab des toten Vaters; ein Greis schritt gebückt unter den Steinen und Kreuzen umher, die Aufschriften lesend.
In der Stadt verkündeten alle Glocken den morgenden Sonntag; voll und rein wogten die feierlichen Klänge, die in den Straßen im Rollen und Rauschen der Arbeit ersticken, über diese stille Welt hinweg. Immer goldner glänzte der Himmel im Westen, immer tiefer sank die Sonne dem Horizont zu. Nacht ward's auf der einen Hälfte dieses drehenden Balles, während auf dem großen Atlantischen Ozean vielleicht eben ein Schiff, dem jungen Amerika entgegensegelnd, die Sonne aufsteigend begrüßte. Vielleicht ist es nur ein Schiff, das jetzt im jungen Tage segelt, während hier die Nacht sich über so viele Millionen legt. Dort steht der Führer auf dem Verdeck, das Fernrohr in der Hand; im Mastkorb schaut ein freudiges Auge nach dem ersehnten Lande aus, überall Leben und Bewegung. – – Hier zündet der einsame Denker seine Lampe an und schlägt die Bücher der Vergangenheit auf, die Zukunft daraus zu enträtseln, und findet vielleicht, daß die Nacht, die auf den Völkern liegt, ewig dauern wird, in demselben Augenblick, wo auf jenem einsamen Schiff der Willkommensschuß donnert, »Amerika!« die zu dem Schiffsrand stürzende Auswandrerschar ruft und eine Mutter ihr kleines, lächelndes Kind in die Morgensonne und dem neuen Vaterland entgegenhält!
Das Gras fängt an, feucht zu werden, ich muß meine kleine Schläferin aufwecken. Die bleiche Frau erhebt sich ebenfalls; sie kommt auf uns zu. Wir kennen uns nicht; aber hier auf dem Kirchhof scheut sie sich nicht, sich über mich und das schlummernde Kind zu beugen.
»Lassen Sie mich die Kleine küssen!« sagt sie.
Ich sehe sie unter den Bäumen verschwinden, ein Tuch vor den Augen.
Elise erwacht: »O wie schön!« ruft sie, in die Glut des Abends schauend.
»Gute Nacht, Franz! Gute Nacht, Maria!«
Holla! Was ist in der Sperlingsgasse los? Als wir nach Haus kommen, herrscht ein Tumult darin, wie ich ihn noch nie darin erlebt habe. In allen Haustüren schwatzende Gruppen, jede Arbeit eingestellt: Salatwaschen, Schuhflicken, Strümpfestopfen, Hämmern, Sägen, Federkritzeln, alles ins Stocken geraten, nur nicht – die Zungen!
»O je, o je, Herr Wachholder, sehen Sie mal da oben!« schreit Martha, die auf der Treppe unserer Haustür, umgeben von einem Kreis Nachbarinnen, Posto gefaßt hat, mir schon von weitem zu.
»Was gibt's denn, Martha? Was ist los?« rufe ich ihr entgegen.
»Der Herr Doktor Wimmer ist los!« jubeln zwanzig Stimmen um mich her, und zwanzig Finger zeigen nach dem Fenster des vortrefflichen Burschen, welcher bis jetzt der »bunte Hund« der ganzen Gasse war.
Ein großer Bogen Papier flattert dort oben, und darauf steht mit gewaltigen Buchstaben:
DR. WIMMER
P.
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