P. C.
Aus dem offenen Fenster aber beugt sich – Herrn Polizeikommissarius Stulpnases ehrwürdiges Vollmondgesicht, und seine weißbehandschuhten Hände sind bemüht, den Zettel abzunehmen.
Ich überliefere schnell die verwunderte Liese der alten Martha und steige die Treppen zu der Wohnung des Doktors hinauf, welches sehr langsam geht, denn vor mir her schiebt sich eine unheschreibliche, wunderbare Masse von Kleidungsstücken ächzend und stöhnend den engen Weg langsam, langsam hinauf.
Das war die dicke Madam Pimpernell, die das Ereignis seit langen Jahren zum ersten Male wieder in die obern Räume ihres Hauses trieb.
Das Zimmer beschrieb ich neulich bei meinem Besuch des Zeichners Strobel und brauche daher jetzt nur zu sagen, daß der Nachlaß des Doktors in einem zerspaltenen Stiefelknecht, einer leeren Zigarrenkiste Fumadores regalia und – einem Exemplar der »Flodoardine« bestand.
Stulpnase saß da auf einem Stuhl, schaute das leere Nest wehmütig-grimmig an und ächzte:
»Ausgewiesen! Nun gar ausgekniffen! Donnerwetter – ohne erst für seinen ›Deppe‹ gesessen zu haben.«
»Jotte, einer armen Witfrau ihren besten Mieter abzutreiben, is das in der Ordnung, Herr Kumzarius? Habe ich darum Ihrer Frau die Butter immer um 'nen Dreier billiger gelassen?« greint die dicke Madam Pimpernell, die ebenfalls dem Beamten gegenüber auf einen Stuhl gesunken ist.
»Halte Sie das Maul. Frau!« schnauzt Stulpnase, worauf die Dicke ein Gesicht macht, wie es einst jedes brave korinthische Weib geschnitten haben muß, als es das Wort des Apostels Paulus hörte: Mulier taceat in ecclesia.
Nach einer feierlichen Stille von einigen Minuten stößt Stulpnase ein dumpfes Geheul aus und seufzt in sich: »Deppe.« Plötzlich aber, mit Wut auf seine Brusttasche schlagend, schreit er: »Und hier hab ich den Verhaftsbefehl: Beleidigung eines Beamten im Dienst, und – ausgekniffen!«
Ich wage es nicht, den aufgebrachten Leuen durch Lachen noch mehr zu reizen, verschwinde und platze erst auf der Treppe los, die beiden Würdigen einander gegenüber sitzen lassend.
In der Gasse steckt mir Marquart ein Billett zu und flüstert geheimnisvoll, nach dem Fenster des Doktors deutend:
»Das hat er zurückgelassen für Sie, Herr Wachholder!«
Der Zettel lautet:
»Liebster Freund!
Eine hohe Polizei weiß, was ›Deppe‹ heißt, obgleich es nicht im Konversationslexikon steht. Ein Freund hat mich gewarnt – ich verschwinde! – In den böhmischen Wäldern sehen wir uns wieder!
Dr. Wimmer.
P. Scr. Der Redaktionspudel begleitet mich!«
»Onkel, was soll denn das alles bedeuten, wo ist denn der Onkel Doktor?« fragt die kleine Liese, welche, obgleich schon im Nachtzeug, nicht vom Fenster weggekommen ist.
Ich schreibe: pour prendre congé auf einen Zettel, und Lieschen, die jetzt schon eine kleine Gelehrte ist, hat mit Hülfe eines Diktionärs noch vor dem Schlafengehen heraus: »Um – nehmen – Abschied.«
»Der Onkel Wimmer muß eine kleine Reise machen, Schatz!«
Damit geht Elise getröstet zu Bette und verschläft und verträumt sanft ihren ersten Schmerz, In diesem Alter genügt noch eine Nacht, ihn zu begraben.
Am 12. Januar
Ich hab's mir wohl gedacht, als ich diese Bogen falzte, und ich hab's auch wohl mit aufgeschrieben, daß ihr Inhalt nicht viel Zusammenhang haben würde. Ich weile in der Minute und springe über Jahre fort: ich male Bilder und bringe keine Handlung; ich breche ab, ohne den alten Ton ausklingen zu lassen: ich will nicht lehren, sondern ich will vergessen, ich – schreibe keinen Roman!
Heute werfe ich zum erstenmal einen prüfenden Blick zurück und muß selber lächeln. Alter Kopf, was machst du? Was werden die vernünftigen Leute sagen, wenn diese Blätter einmal das Unglück haben sollten, hinauszugeraten unter sie?
Doch – einerlei! Laß sie sprechen, was sie wollen: ich segne doch die Stunde, wo ich den Entschluß faßte, diese Blätter zu bekritzeln, mit einem Fuß in der Gegenwart und Wirklichkeit, mit dem andern im Traum und in der Vergangenheit! – Wieviel trabe, einsame Stunden sind mir dadurch nicht vorübergeschlüpft sonnig und hell, ein Bild das andere nachziehend, dieses festgehalten, jenes entgleitend: ein buntes, freundliches Wechselspiel! So schreibe ich weiter.
Manche alte verstaubte Mappe mit Büchern, Heften, Zeichnungen, vertrockneten Blumen und Bändern liegt da: ich brauche nur hineinzugreifen, um eine süße oder traurige Erinnerung aufsteigen zu lassen, keine aber so duftig, so waldfrisch als die folgende, welche ich überschreibe:
Ein Tag im Walde
»Fahren wir, oder gehen wir?« hatte Lieschen am Abend jenes auf den vorigen Seiten beschriebenen, so ereignisvollen Tages noch gefragt.
»Wir fahren!« war die Antwort gewesen, und glücklich darüber hatte das Kind das Näschen nach der Wand gekehrt und war eingeschlafen.
Mit dem Wagen erschien am andern Morgen auch Roder, der Lehrer Elisens, den leichten Strohhut auf dem Kopf, die grüne Botanisierbüchse auf dem Rücken, schon an der Ecke lustig nach dem Fenster hinaufwinkend.
Die alte Martha hatte den Kaffee fertig, und Lieschen, die bei ihrem Eifer, ebenfalls fertig zu sein, diesmal mehr Hülfe als gewöhnlich nötig gehabt hatte, sprang die Treppe hinunter und erschien nun, den Lehrer hinter sich herziehend.
Roder ist einer jener Volkslehrer, wie sie nur Deutschland hervorbringt. Er ist, wie es sich fast von selbst versteht, der Sohn eines Schulmeisters, der wiederum der Sohn eines Schulmeisters war; denn wenn es einen Stand gibt, der sich durch Generationen fortpflanzt, so ist es das deutsche Volkslehrertum. Da bringt der Vater vom Lande einen seiner gewöhnlich sehr zahlreichen Söhne in die Stadt mit einer Bibel, einem Gesangbuch und vor allem einem Choralbuch als Bibliothek. Der Junge ist der Stolz seines Vaters. Wer hat ein größeres Talent, die Orgel zu spielen? Wer hat eine bessere Stimme – wenn sie auch gerade sich setzt? So ausgerüstet betritt der junge Gelehrte den Schauplatz seiner weitern Ausbildung; gewaltig packt ihn anfangs das Heimweh unter der wilden Bande seiner Mitschüler, die ihn hänseln und zum besten haben in seiner Gutmütigkeit und Unerfahrenheit. Das Leben ist ihm anfangs nur ein erster April, wo man die Narren »umherschickt – in den April«. Selbst der Zuwachs seiner Bibliothek, bestehend aus den Schulbüchern seiner Klasse und Funkes Naturgeschichte, vermag ihn nur mittelmäßig zu trösten; ein größerer Freund ist ihm in dieser Epoche seines Daseins das alte wacklige Klavier, welches ihm der Vater für ein billiges gemietet und in sein Dachstübchen gestellt hat. Davor sitzt der Arme und spielt seine Choräle und Volksweisen – letztere nach dem Gehör, und denkt zurück an sein Dorf, an seine Eltern und Geschwister und vor allem an die Schule, wo er der Erste war – ja sogar in der Ernte den Vater zuweilen vertreten durfte; während er hier – er, der große Bengel! – ganz unten seinen Platz unter den Kleinsten, Dummsten und Faulsten bekommen hat!
Warte nur, armer Kerl – sieh, da bricht schon der erste freudige Strahl in dein dunkles Sein. Gewöhnlich gibt es auf jeder Schule einen Lehrer, der ein Original, ein Sammler, vielleicht ein leidenschaftlicher Naturfreund ist, womit meistens die Gabe der Mitteilung sich verbindet, dem begegne, du armes einsames Gemüt, und du wirst einen Freund gefunden haben. Jetzt verändert sich alles!
Welch ein Schweifen nun über Berg und Tal; welch ein Versenken in all die kleinen und kleinsten gewaltigen Wunder in der Luft, im Wasser, auf und unter der Erde! Wie sich das Dachstübchen füllt mit Käfern, Schmetterlingen, Herbarien usw. Welch eine selige Ermüdung an jedem Abend, welch ein Träumen in der Nacht, welch ein Erwachen am Morgen!
Nun zieht eine Wissenschaft alle andern nach sich; die Klassen werden durchflogen – den Schiller lernen wir auswendig, und die Welt dehnt sich immer schöner und weiter vor uns aus. – Ach, ein Faust zu sein, ist es nicht nötig, alles studiert zu haben: das Wollen allein genügt, den Mephistopheles aus dem Nebel hervortreten zu lassen!
Stütze nur die heiße Stirn auf die Hand, du Sohn Deutschlands, in langen durchwachten Nächten, beschwöre nur die Geister alter und neuer Zeit herauf, sie sind doch stets um dich, die Gespenster: Lebensnot und Zweifel und vergebliches Streben!
Der Arm der Notwendigkeit faßt dich und schleudert dich mit deinem Wissensdrang in ein kleines abgelegenes Walddorf oder an die Armenschule einer großen Stadt; da begrab dein volles Herz und suche – zu vergessen!
Glücklich, wenn du's kannst; glücklicher aber vielleicht doch, wenn es dir gegeben ist, auch hier weiterzusuchen. Der Pulsschlag des Weltgeistes pocht ja überall: »Suchet, so werdet ihr ihn finden!« sagt das schönste der Bücher, das so leicht zu verstehen ist und so schwer verstanden wird.
Ungeduldig klatscht der Kutscher unten vor der Tür, ungeduldig treibt Elise; während Martha noch immer Zurüstungen macht wie zu einer Reise nach dem Nordpol. Endlich aber steigen wir in den Wagen.
Unsere Sonntagsodyssee beginnt.
»Hätte der Onkel Doktor nicht morgen abreisen können?« fragt noch Lieschen, nach dem Zettel droben schauend, auf welchem die Madam Pimpernell ankündigt:
»Hier ist eine Stube mit Kabinett zu vermieten.«
Roder lächelt, scheint etwas auf dem Herzen zu haben, aber sich gegenwärtig auf Weiteres nicht einlassen zu wollen, und so rollen wir durch die noch stillen Straßen dem Tore zu. An den Wochentagen ist's um diese Zeit schon lebendig genug, heute aber schläft das Volk der Arbeit in den Morgen und den Sonntag hinein; es hat das Recht dazu nach sechs Schöpfungstagen.
Jetzt sind wir in den grünen Anlagen, die sich rings um die Stadt ziehen. Landhäuser und Gärten fassen auf beiden Seiten die Straße ein. Eine Eisenbahnlinie geht mitten über den Weg, und wir müssen anhalten, denn ein Zug fliegt eben brausend und schnaubend dem Bahnhofe zu. Der Sonntag, der den Städter hinausführt, bringt den Landmann hinein in die Stadt, und alle die Tausende, die heute ein- und ausfliegen werden, suchen alle ein anderes Ziel des Genusses, jeder die Freude auf eine andere Weise.
Schon haben wir die letzten Gärten hinter uns und fahren nun langsam die Pappelallee hinauf den Höhen zu, welche im weiten Umkreis die große Ebene und die große Stadt umgrenzen. Die Sonne steigt empor über dem Walde; die Knospen, die Blätter, die Blumen tragen alle einen Tautropfen, das Geschenk der Nacht; die Lerche erhebt sich jubelnd in die blaue frische Luft, und auch sie schüttelt Tau von den Flügeln. Wenn wir zurückblicken, liegt die große Stadt noch verhüllt in dem silbergrauen Duftschleier, den sie selbst sich weht und den sie, wie Penelope den ihrigen, nur zertrennt, um ihn von neuem zu knüpfen. Wie eingewebte Goldsterne blitzen die Kreuze der Türme – die Zeichen des Leids – darauf.
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