– In dieser Nacht sitzt hoch oben in einem kleinen, mehr drei- als viereckigen Dachstübchen ein Student vor einem gewaltigen schweinsledernen Folianten, über welchen er hinwegstarrt. Wo wandern seine Gedanken? Draußen jagt der Wind die Wolken vor dem Monde her, rüttelt an den Dachziegeln, schüttelt den zerlumpten Schlafrock, welchen der erfinderische Musensohn, um sich und seine Studien ganz von der Außenwelt abzusperren, vor dem Fensterkreuz festgenagelt hat – kurz, gebärdet sich so unbändig, wie nur ein Wind, der den Auftrag hat, das letzte Laub von den Bäumen in Gärten und Wäldern zu reißen, sich gebärden kann. Lange hat der Musensohn in tiefe Gedanken versunken dagesessen; jetzt springt er plötzlich auf und dreht mir das Gesicht zu – – – das bin ich wieder: Johannes Wachholder, ein Student der Philosophie in der großen Haupt- und Universitätsstadt. Sehr aufgeregt scheint der Doppelgänger meiner Jugend zu sein; mit so gewaltigen Schritten, als das enge, wunderlich ausstaffierte Gemach nur erlaubt, rennt er auf und ab.
Plötzlich springt er auf das Fenster zu, reißt den improvisierten Vortang herunter und läßt einen prächtigen Mondenstrahl, der in diesem Augenblick durch die zerrissenen Wolken fällt, herein.
»Marie! Marie!« flüstert mein Schattenbild leise, die Arme gegen ein schwach erleuchtetes Fenster drüben ausstreckend, gegen dessen herabgelassene Gardine der kaum bemerkbare Schatten einer menschlichen Gestalt fällt, und – –
Es ist eine gefährliche Sache, in den Momenten ungewöhnlicher Aufregung – sei es Freude oder Schmerz, Haß oder Liebe – sich dem klaren, weißen Licht des Mondes auszusetzen. Das Volk sagt: Man wird dumm davon. Wirklich, wundersame Gedanken bringt dieser reine Schein mit sich; allerlei tolles Zeug gewinnt Macht, sich des Geistes zu bemächtigen und ihn unfähig zu machen, fürderhin gemütlich auf der ausgetretenen Straße des Alltagslebens weiterzutraben. »Man wird dumm davon!« -Zauberhafte Aussichten in phantastische, nebelhafte Gründe öffnen sich zu beiden Seiten; nie gehörte Stimmen werden wach, locken mit Sirenensang, flüstern unwiderstehlich, winken den Wanderer ab vom sicheren Wege, und bald irrt der Bezauberte in den unentrinnbaren Armidengärten der Fee Phantasie.
»Ich liebe dich«, flüstert mein Schattenbild, »ich will dich reich, ich will dich glücklich, ich will dich berühmt machen, ich will« – der schreibende Greis kann jetzt nur lächeln – »die Welt für dich gewinnen, Marie!«
Mehr noch flüstert mein Doppelgänger, die Stirn an die Scheiben drückend, hinüber nach dem kleinen Stübchen, wo die Jugendgespielin, fortgerissen von dem kalten Arm des Lebens aus der waldumgebenen, friedlichen Heimat, einsam in der dunkeln, stürmischen Nacht arbeitet, als ein anderer Schatten seine Träume von Glück und Ruhm durchkreuzt.
Da ist eine andere Gestalt; schwarze, dichte Locken umgeben ein sonnverbranntes Gesicht, die Augen blitzen von Lebenslust und Lebenskraft, es ist der Maler Franz Ralff, der, aus Italien zurückkehrend, voll der göttlichen Welt des Altertums und voll der großen Gedanken einer ebenso göttlichen jüngern Zeit, den Freund umarmt.
Und weiter schweift mein Geist. – Ich sehe noch immer die junge Waise in ihrem kleinen Stübchen unter Blumen arbeitend. Ich sehe zwei Männer im Strom des Lebens kämpfen, ein Lächeln von ihr zu gewinnen; und ich sehe endlich den einen mit keuchender Brust sich ans Ufer ringen und den schönen Preis erfassen, während der andere weitergetrieben, willenlos und wissenlos auf einer kahlen, skeptischen Sandbank sich wiederfindet. – Ich sehe mich, einen blöden Grübler, der sich nur durch erborgte und erheuchelte Stacheln zu schützen weiß, bis er endlich, nach langem Umherschweifen in der Welt, hervorgeht aus dem Kampf, ein ernster, sehender Mann, der Freund seines Freundes und dessen jungen Weibes.
Ich lebe durch kurze Jahre von schmerzlich süßem Glück; ich sehe während dieser Jahre eine feine blondlockige Gestalt lächelnd, wie unser guter Genius, Franz und mich umschweben und ihre schützende Hand ausstrecken über seine leicht auflodernde Wildheit und meine hinbrütende Traurigkeit; – ich sehe bald ein kleines Kind – Elise genannt in den Blättern dieser Chronik – des Abends aus den Armen der Mutter in die des Vaters und aus den Armen des Vaters in die des Freundes übergehen, mit großen, verwunderten Augen zu uns aufschauend – – –
Plötzlich hört der Regen auf, an die Fenster zu schlagen; ich schrecke empor – es ist späte Nacht. Einen letzten Blick werfe ich noch in die Gasse hinunter. Sie ist dunkel und öde; der unzureichende Schein der einen Gaslaterne spiegelt sich in den Sümpfen des Pflasters, in den Rinnsteinen wider. Eine verhüllte Gestalt schleicht langsam und vorsichtig dicht an den Häusern hin. Von Zeit zu Zeit blickt sie sich um. Geht sie zu einem Verbrechen oder geht sie, ein gutes Werk zu tun? Eine andere Gestalt kommt um die Ecke; – ein leiser Pfiff –
»Du hast mich lange warten lassen, Riekchen!«
»Ich konnte nicht eher, die Mutter ist erst eben eingeschlafen...«
Ein in der Ferne rollender Wagen macht das übrige unhörbar. Die Figuren treten aus dem Schatten; ich sehe Ballputz unter den dunkelen Mänteln.
Sie verschwinden um die Ecke, und ich schließe das Fenster.
So endet das erste Blatt der Chronik, die wie die Geschichte der Menschheit, wie die Geschichte des einzelnen beginnt mit – einem Traume.
Am 2. Dezember
Es ist heute für mich der Jahrestag eines großen Schmerzes, und doch trat heute morgen der Humor auf meine Schwelle, schüttelte seine Schellen, schwang seine Pritsche und sagte:
»Lache, lache, Johannes, du bist alt und hast keine Zeit mehr zu verlieren.«
Jener sonderbare lange Mensch von drüben, im abgetragenen grauen Flausrock, einen ziemlich rot und schäbig blickenden Hut unter dem Arme, klopfte an meine Tür, kündigte sich als der Karikaturenzeichner Ulrich Strobel an, breitete eine Menge der tollsten Blätter auf dem Tische vor mir aus und verlangte, ich solle ihm für den Winter – den Sommer über bummele er draußen herum – eine Stelle als Zeichner bei einem der hiesigen illustrierten Blätter verschaffen. Er behauptete, meinen dicken Freund, den Doktor Wimmer in München, sehr gut zu kennen, und malte wirklich als Wahrzeichen das heitere Gesicht des vortrefflichen Schriftstellers sogleich auf die innere Seite des Deckels eines daliegenden Buches. Ich versprach dem wunderlichen Burschen, dessen Federzeichnungen wirklich ganz prächtig waren, von meinem geringen Ansehen in der Literatur hiesiger Stadt für ihn den möglichst besten Gebrauch zu machen, und er schied, indem er in der Tür mir die Hand drückte, mich süß-säuerlich anlächelte und sagte:
»Sie tun sehr wohl, mich so zu verbinden, verehrtester Herr, denn als braver Nachbar würde ich doch manche angenehme Seite an Ihnen entdecken, die, zu Papier gebracht, sich sehr gut ausnehmen könnte. Gute Nachbarn werden wir übrigens diesen Winter hindurch wohl sein, teuerster Herr Wachholder, denn – Sie sehen gern aus dem Fenster, eine Eigentümlichkeit aller der Leute, mit welchen sich auf die eine oder die andere Weise leicht leben läßt. Guten Morgen!«
Um eine originelle Bekanntschaft reicher kehrte ich zu meiner Chronik zurück mit der Gewißheit, dem Meister Strobel von Zeit zu Zeit darin wieder zu begegnen.
Am Nachmittag
Es ist heute Jahrestag. Ich werde die Erinnerung nicht los, sie verfolgt mich, wo ich gehe und stehe.
Es war ein ebenso trüber, regenfarbiger Winternachmittag wie jetzt, als ich traurig dort drüben in jenem Fenster saß – vor langen Jahren –, dort drüben in jenem Fenster, von welchem aus mir eben der Zeichner Strobel zunickt – und traurig hinaufblickte zu der grauen, eintönigen Himmelsdecke. Die Gasse sah damals wohl nicht viel anders aus als heute; doch sind viele Gesichter, deren ich mich noch gar gut erinnere, verschwunden und haben andern Platz gemacht, und nur einzelne, wie zum Beispiel der alte Kesselschmied Marquart im Keller drunten, der heute wie vor so vielen Jahren lustig sein Eisen hämmert, haben sich erhalten in diesem ununterbrochenen Strom des Gehens und Kommens. Diese sind denn auch mit die Anhaltepunkte, an welche ich bei meinem Rückgedenken den stellenweis unterbrochenen Faden meiner Chronik wieder anknüpfe.
Einem Wässerchen will ich diese Chronik vergleichen, einem Wässerchen, welches sich aus dem Schoß der Erde mühevoll losringt und, anfangs trübe, noch die Spuren seiner dunklen, schmerzenvollen Geburtsstätte an sich trägt. Bald aber wird es in das helle Sonnenlicht sprudeln, Blumen werden sich in ihm spiegeln, Vögelchen werden ihre Schnäbel in ihm netzen. An dieser Stelle werdet ihr es fast zu verlieren glauben, an jener wird es fröhlich wieder hervorhüpfen. Es wird seine eigene Sprache reden in wagehalsigen Sprüngen über Felsen, im listigen Suchen und Finden der Auswege – Gott bewahre es nur vor dem Verlaufen im Sande!...
So fahre ich fort:
Es war, wie gesagt, ein trauriger, unheimlicher Tag, aber nicht er war es, der damals so schwer auf meine Seele drückte. An jenem Tage sah ich von dem Fenster dort drüben die Fenster der Kammer meiner jetzigen Wohnung weit geöffnet trotz der Kälte, trotz dem Regen. Die weißen Vorhänge waren herabgelassen und an den Seiten befestigt, damit der Wind, welcher sie heftig hin und her bewegte, sie nicht abreiße.
Der Tod hatte seine finstere, kalte Hand trennend auf ein glückliches Zusammenleben gelegt: der kleine Stuhl dort unter dem Efeugitter auf dem Fenstertritt vor dem Nähtischchen war leer geworden.
Marie Ralff war tot! – –
Ich sah von meinem Fenster aus hier eine Gestalt im Zimmer auf und ab gehen. Armer Franz! Armes kleines Kind! Armer -Johannes! – Sie war so lieblich, so jungfräulich-frauenhaft mit ihrem Kindchen im Arm!
Da hängt im Museum der Stadt ein kleines Madonnenbild, wo die »Unberührbare« den auf ihrem Schoß stehenden kleinen Jesus gar liebend-verwundert und mütterlich-stolz betrachtet.
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