Dem Bilde glich sie, die ebenso blondlockig, ebenso heilig, ebenso schön war, und oft genug bleibe ich vor diesem Bilde, einem Werk des spanischen Meisters Morales, den seine Zeitgenossen el divino nannten, stehen, alter vergangener schöner Zeit gedenkend.

Oh, ich liebte sie so, ich hatte so gelitten, als sie mich nur »Freund« und ihn, meinen Freund Franz Ralff, »Geliebter« nannte. Und jetzt war sie tot; einsam hatte sie uns zurückgelassen! Der Abend sank tiefer herab, und die Dämmerung legte sich zwischen mich und das Drüben. Ich hielt es nicht mehr aus, ich mußte hinüber! Als ich eintrat, schritt Franz immer noch auf und ab; er schien mich nicht zu bemerken, und still setzte ich mich in den Winkel neben die Wiege, wo Martha, die Wärterin, über dem Kinde wachte, welches ruhig schlief und die kleinen Hände zum Mündchen hinaufgezogen hatte.

Ich weiß nicht, wie lange ich da gesessen habe, ich weiß von keinem meiner Gedanken in jener Nacht Rechenschaft zu geben. Die tiefe Stille, die auf der großen Stadt lag, ließ nur das Gefühl mich überkommen, als ob das Leben auch dieses zuckende, bewegte Herz eines ganzen großen Landes verlassen habe, als ob das leise Picken der Wanduhr das letzte verklingende Getön des Weltenrades sei und die ewige Stille nun binnen kurzem alles Leben zurückgeschlürft haben würde.

Das leise Weinen des Kindes neben mir erweckte mich endlich; Franz legte mir die Hand auf die Schulter und fiel dann plötzlich erschöpft auf einen Stuhl neben mir.

»Gute Nacht, Johannes«, sagte er, den Kopf an meine Brust legend, »morgen wollen wir sie begraben!« –

Es waren die ersten Worte, die er an dem Tage sprach!

 

Am 3. Dezember

 

O cara, cara Maria, vale!

Vale, cara Maria!

Cara, cara Maria, vale!

 

Es war ein berühmter Dichter, der dies auf den Grabstein einer geliebten Abgeschiedenen setzte, er hatte treffliche, herzerschütternde Gesänge gesungen; hier wußte er nichts weiter als diese drei Worte, herzzerreißend wiederkehrend. Und jenes: Morgen! dämmerte. Das Leben der großen Stadt begann wieder seinen gewöhnlichen Gang; der Reichtum gähnte auf seinen Kissen oder hatte auch wohl das Herz ebenso schwer als die Armut, die jetzt aus ihrem dunkeln Winkel huschte, um einen neuen Ring der Kette ihres Leidens, einen neuen Tag ihrem Dasein anzuschmieden. Die Gewerbe faßten ihr Handwerkszeug; die großen Maschinen begannen wieder zu hämmern und zu rauschen; die Wagen rollten in den Straßen, und der Taufzug begegnete dem Totenwagen; denn es war nicht die einzige Leiche drüben in der kleinen Kammer, die in der menschenvollen Stadt im letzten Schlaf ausgestreckt lag.

Ich ging hinüber. Der Kesselschmied Marquart – er war damals noch jünger und kräftiger als heute – hatte sein Hämmern eingestellt und lehnte traurig in der niedrigen Tür, die in seine unterirdische Werkstatt hinabführt; er liebte die tote Marie so gut wie alle, die mit ihr je in Berührung gekommen waren. Hatte sie nicht für jeden fremden Schmerz eine Träne, für jede fremde Freude ein teilnehmendes Lächeln? War sie nicht in der dunkeln Sperlingsgasse wie jene sonnige, gute, kleine Fee, die überall, wo sie hintrat, eine Blume aus dem Boden hervorrief?

Auf dem Hausflur standen flüsternde Frauen, die mir traurig, als ich vorüberging, zunickten, und auf einer Treppenstufe saß ein kleines schluchzendes Mädchen, eine zerbrochene Puppe im Schoß. Oh, ich weiß das alles noch! Und jetzt trat ich ein –

Da lag sie in ihrem weißen, mit roten Schleifen besetzten Kleide, eine aufgeblühte Rose auf der Brust, in ihrem schwarzen Sarge, die einst so klaren und innigen Augen geschlossen, die ewige, ernste Ruhe des Todes auf der reinen Stirn! Franz fiel mir weinend um den Hals; junge Nachbarinnen in weißen Sonntagskleidern befestigten Girlanden von Tannenzweigen und Immergrün, aus denen hier und da eine einsame Blume hervorschaute, um den schwarzen Schrein.

Ach, die Armut und der Winter erlaubten nicht, allzuviel »Süßes der Süßen« zu streuen!

Der junge Tischler Rudolf unten aus dem Hause stand, die Augen mit der Linken bedeckend. Hammer und Nägel in der Rechten, zur Seite; seine junge Braut lehnte schluchzend das Haupt auf seine Schulter. Oh, ich weiß das alles, alles noch! – Einen letzten, langen, langen Blick warf ich auf die schöne, bleiche, stille Gespielin meiner Kindheit, die Heilige meiner Jünglingsjahre, die Trösterin meines Mannesalters, dann hob ich leise Franz von ihrer Brust, über die er hingesunken war, auf und führte ihn an die Wiege seines Kindes. – Rudolf der Tischler begann sein trauriges Werk. Unter dumpfen Hammerschlägen legte sich der Deckel über dies Reliquiarium eines Menschenlebens. Ein kalter Schauer überlief mich! Vale, vale, cara Maria!

Die Träger kamen, hoben die leichte Last auf die Schultern und trugen sie die schmale, enge Treppe hinab; die Frauen schluchzten, Kinderköpfe lugten verwundert-ernst durch die Haustür und wichen scheu zur Seite, als der traurige Zug hinaustrat auf die Straße. Freunde und Bekannte hatten sich eingefunden, das Weib des Malers auf dem letzten Wege zu begleiten; der Kesselschmied zog das Mützchen ab und strich mit seiner schwarzen, schwieligen Hand über die Augen. Den wie in einem bösen Traum gehenden Franz führend, schritt ich dem Bretterhäuschen nach, welches unser Liebstes barg. Oh, ich weiß das alles noch ganz genau! So ist das Menschenherz! Viele Jahre sind vorübergegangen seit jenem traurigen Tage, und heute noch erinnere ich mich an alle die finsteren Gedanken, die damals durch meine Brust zogen, während ich so manche jüngere Freude vergessen habe!

Es lernt und sieht sich so manches auf einem solchen Gange für den, der es versteht, auf den Gesichtern der Begegnenden und Nachschauenden zu lesen.

Sieh dort an der Ecke die arme, mit Lumpen bekleidete Frau aus dem Volk, wie sie ihr Kind fester an sich drückt und flüstert: »Was sollte aus dir werden, mein kleines Herz, wenn ich heute so still läge wie die, welche man da fortträgt.«

Dort kommt eine elegante Equipage, Kutscher und Bediente in prächtiger Livree mit Blumensträußen im Knopfloch. Bunte Hochzeitsbänder flattern an den Kopfgeschirren der Pferde: der junge vornehme Mann führt seine schöne Braut zur Trauung: ihr Auge trifft den Sarg, der langsam auf den Schultern der Träger daherschwankt, und die junge Verlobte birgt zitternd ihr juwelenblitzendes Haupt an der Brust neben ihr.

Sieh den Arbeiter, der dort das Beil sinken läßt und stier dem Zuge des Todes nachsieht. Schaffe weiter, Proletarier, auch drin Weib liegt zu Hause sterbend: schaffe weiter, du hast keine Zeit zu verlieren; der Tod ist schnell, aber du mußt schneller sein, Mann der Arbeit, wenn du sie in ihren letzten Stunden vor dem Hunger schützen willst.

Beugt das Haupt und tretet zur Seite, ihr kettenklirrenden Verbrecher! Der Tod zieht vorüber! Er wird auch euch einst von euern Ketten befreien! Beugt das Haupt, ihr armen Geschöpfe der Nacht, der Tod zieht vorüber, und auch euch hebt er einst, den erborgten Flitterputz, den armen beschmutzten Körper, die Sünde der Gesellschaft euch abstreifend, rein und heilig empor aus der Dunkelheit, dem Schmutz und dem Elend.

Von dir, du Spötter mit dem faden Lächeln auf den Lippen, fordere ich nicht, daß du zur Seite tretest! Der Zug des Todes mag dir ausweichen – du bist würdig, dein Leben doppelt und dreifach zu leben!

Es ist ein langer Weg aus der Mitte der großen Stadt bis zu dem Johanniskirchhofe draußen, und nie ist mir ein Weg so lang und doch zugleich so kurz vorgekommen. Ich dachte an den Verurteilten, der dem Richtplatz näher und näher kommt, dem jede Minute eine Ewigkeit und der stundenlange Weg ein Augenblick ist. Ach, wir armen Menschen, ist nicht das ganze Leben ein solcher Gang zum Richtplatz? Und doch freuen wir uns und jubeln über die Blumen am Wege und sehen in jedem Tautropfen, der in ihnen hängt, Himmel und Erde! Armes glückliches Menschenherz!

Die schweren, massigen Regenwolken wälzten sich dicht über der Erde weg, als wir aus dem Tor traten. Grau in grau Himmel und Erde! Grau in grau Herz und Welt!

Die Bäume streckten ihre leeren Äste wehmütig empor, eine Meise flog von Ast zu Ast vor dem Zuge her.

Und jetzt waren wir angelangt vor der Pforte des Friedhofes. Langsam wand der Zug sich den Weg entlang, an frischen und eingesunkenen Hügeln, stolzen Monumenten und dürftig naivem Putz vorüber der Stelle zu, wo die Hülle der toten Marie ruhen sollte. Im folgenden Frühling machten wir einen hübschen, lieblichen Ort daraus, wo die Goldregenbüsche ihre duftenden Trauben herabhängen ließen und die Vögel in den Rosensträuchern zwitscherten, heute jedoch war's ringsumher gar traurig und unheimlich. Auf dem Grunde der Grube, die unser Liebstes aufnehmen sollte, stand ein kleiner Sumpf Regenwasser, in welchem sich aber plötzlich eine lichte blaue Stelle, die oben am Himmel zwischen den ziehenden Wolken durchlugte, widerspiegelte. – – Ich habe nichts, nichts vergessen!

Und nun, ihr Männer, laßt den Sarg hinabgleiten; gebt der alten schaffenden Mutter Erde ihr schönes Kind zurück! Und nun, Franz, wirf drei Hände voll Erde auf die versinkende Welt deiner Freude! – Ergreift die Schaufeln, ihr Clowns, und vollendet euer Geschäft! Du alter, rotnäsiger Bursch, bemühe dich nicht, ein wehmütiges Gesicht zu ziehen, winke nur deinem Gefährten, daß er die Flasche bei Yaughan füllen lasse, und brumme leise dein altes Totengräberlied in den Bart!

Wie die Schollen dumpfer und dumpfer auf den Sarg poltern, und wie jeder Ton das arme Herz erzittern läßt in seinen tiefsten Tiefen! Wie das Auge sich anklammert an den letzten Schein des schwarzen Holzes, der durch die bedeckende Erde schimmert, bis endlich jede Spur verschwindet, die hinabgeworfene Erde nur noch Erde trifft, die Höhle sich allmählich füllt und endlich der Hügel sich erhebt, der von nun an mit dem geliebten begrabenen Wesen in unsern Gedanken identisch ist!

Wunderliches Menschenvolk, so groß und so klein in demselben Augenblick! Welch eine Tragödie, welch ein Kampf, welch ein – Puppenspiel jedes Leben, von dem des Kindes, das vergeblich nach der glänzenden Mondscheibe verlangt und verwelkt, ehe es das Wort »ich« aussprechen kann, bis zu dem des grübelnden Philosophen, der in dasselbe Wörtchen »ich« das Universum legt und zusammenbricht, ein körper- und geistesschwacher Greis, welcher kaum noch das Gefühl für Wärme und Kälte behalten hat.

Sieh um dich, Johannes: Verkehrt auf dem grauen Esel »Zeit« sitzend, reitet die Menschheit ihrem Ziele zu. Horch, wie lustig die Schellen und Glöckchen am Sattelschmuck klingen, den Kronen, Tiaren, phrygische Mützen – Männer- und Weiberkappen bilden. Welchem Ziel schleicht das graue Tier entgegen? Ist's das wiedergewonnene Paradies, ist's das Schafott? Die Reiterin kennt es nicht; sie – will es nicht kennen! Das Gesicht dem zurückgelegten Wege, der dunkeln Vergangenheit zugewandt, lauscht sie den Glöckchen, mag das Tier über blumige Friedensauen traben oder durch das Blut der Schlachtfelder waten sie lauscht und träumt! Ja, sie träumt.