Hast du mir's abgemerkt?

MARIANNE. Ja, wer euch Mannsleuten auch nichts abmerkte!—Wenn du sonst nichts hast, so geh' ich wieder; denn ich habe noch allerlei zu tun. Adieu.—Nun gib mir noch einen Kuß.

WILHELM. Wenn die Tauben gut gebraten sind, sollst du einen zum
Nachtisch haben.

MARIANNE. Es ist doch verwünscht, was die Brüder grob sind! Wenn Fabrice oder sonst ein guter Junge einen Kuß nehmen dürfte, die sprängen wändehoch, und der Herr da verschmäht einen, den ich geben will.—Jetzt verbrenn' ich die Tauben. (Ab.)

WILHELM. Engel! lieber Engel! daß ich mich halte, daß ich ihr nicht um den Hals falle, ihr alles entdecke!—Siehst du denn auf uns herunter, heilige Frau, die du mir diesen Schatz aufzuheben gabst?—Ja, sie wissen von uns droben! sie wissen von uns!—Charlotte, du konntest meine Liebe zu dir nicht herrlicher, heiliger belohnen, als daß du mir scheidend deine Tochter anvertrautest! Du gabst mir alles, was ich bedurfte, knüpftest mich ans Leben! Ich liebte sie als dein Kind—und nun!—Noch ist mir's Täuschung. Ich glaube dich wiederzusehen, glaube, daß mir das Schicksal verjüngt dich wiedergegeben hat, daß ich nun mit dir vereinigt bleiben und wohnen kann, wie ich's in jenem ersten Traum des Lebens nicht konnte! nicht sollte!—Glücklich! glücklich! All deinen Segen, Vater im Himmel!

(Fabrice kommt.)

FABRICE. Guten Abend.

WILHELM. Lieber Fabrice, ich bin gar glücklich; es ist alles Gute über mich gekommen diesen Abend. Nun, nichts von Geschäften! Da liegen deine dreihundert Taler! Frisch in die Tasche! Meinen Schein gibst du mir gelegentlich wieder. Und laß uns eins plaudern!

FABRICE. Wenn du sie weiter brauchst—

WILHELM. Wenn ich sie wieder brauche, gut! Ich bin dir immer dankbar, nur jetzt nimm sie zu dir.—Höre, Charlottens Andenken ist diesen Abend wieder unendlich neu und lebendig vor mir geworden.

FABRICE. Das tut's wohl öfters.

WILHELM. Du hättest sie kennen sollen! Ich sage dir, es war eins der herrlichsten Geschöpfe.

FABRICE. Sie war Witwe, wie du sie kennenlerntest?

WILHELM. So rein und groß! Da las ich gestern noch einen ihrer
Briefe. Du bist der einzige Mensch, der je was davon gesehen hat.
(Er geht nach der Schatulle.)

FABRICE (für sich). Wenn er mich nur jetzt verschonte! Ich habe die Geschichte schon so oft gehört! Ich höre ihm sonst auch gern zu, denn es geht ihm immer vom Herzen; nur heute hab' ich ganz andere Sachen im Kopf, und just möcht' ich ihn in guter Laune erhalten.

WILHELM. Es war in den ersten Tagen unserer Bekanntschaft. "Die Welt wird mir wieder lieb", schreibt sie, "ich hatte mich so los von ihr gemacht, wieder lieb durch Sie. Mein Herz macht mir Vorwürfe; ich fühle, daß ich Ihnen und mir Qualen zubereite. Vor einem halben Jahre war ich so bereit, zu sterben, und bin's nicht mehr."

FABRICE. Eine schöne Seele!

WILHELM. Die Erde war sie nicht wert. Fabrice, ich hab' dir schon oft gesagt, wie ich durch sie ein ganz anderer Mensch wurde. Beschreiben kann ich die Schmerzen nicht, wenn ich dann zurück und mein väterliches Vermögen von mir verschwendet sah! Ich durfte ihr meine Hand nicht anbieten, konnte ihren Zustand nicht erträglicher machen. Ich fühlte zum erstenmal den Trieb, mir einen nötigen schicklichen Unterhalt zu erwerben; aus der Verdrossenheit, in der ich einen Tag nach dem andern kümmerlich hingelebt hatte, mich herauszureißen. Ich arbeitete—aber was war das?—Ich hielt an, brachte so ein mühseliges Jahr durch; endlich kam mir ein Schein von Hoffnung; mein Weniges vermehrte sich zusehends—und sie starb—Ich konnte nicht bleiben.