Von drei Seiten umschließen ihn die hohen,
waldbedeckten Berge, aber die vierte, die Nordseite, ist frei, und
hier schaut man über das unten liegende Ilsenburg und die Ilse weit
hinab ins niedere Land. Auf der turmartigen Spitze des Felsens
steht ein großes, eisernes Kreuz, und zur Not ist da noch Platz für
vier Menschenfüße.
Wie nun die Natur durch Stellung und Form den Ilsenstein mit
phantastischen Reizen geschmückt, so hat auch die Sage ihren
Rosenschein darüber ausgegossen. Gottschalk berichtet: »Man
erzählt, hier habe ein verwünschtes Schloß gestanden, in welchem
die reiche schöne Prinzessin Ilse gewohnt, die sich noch jetzt
jeden Morgen in der Ilse bade; und wer so glücklich ist, den
rechten Zeitpunkt zu treffen, werde von ihr in den Felsen, wo ihr
Schloß sei, geführt und königlich belohnt.« Andere erzählen von der
Liebe des Fräulein Ilse und des Ritters von Westenberg eine hübsche
Geschichte, die einer unserer bekanntesten Dichter romantisch in
der »Abendzeitung« besungen hat. Andere wieder erzählen anders: Es
soll der altsächsische Kaiser Heinrich gewesen sein, der mit Ilse,
der schönen Wasserfee, in ihrer verzauberten Felsenburg die
kaiserlichsten Stunden genossen. Ein neuerer Schriftsteller, Herr
Niemann, Wohlgeb., der ein Harzreisebuch geschrieben, worin er die
Gebirgshöhen, Abweichungen der Magnetnadel, Schulden der Städte und
dergleichen mit löblichem Fleiße und genauen Zahlen angegeben,
behauptet indes: »Was man von der schönen Prinzessin Ilse erzählt,
gehört dem Fabelreiche an.« So sprechen alle diese Leute, denen
eine solche Prinzessin niemals erschienen ist, wir aber, die wir
von schönen Damen besonders begünstigt werden, wissen das besser.
Auch Kaiser Heinrich wußte es. Nicht umsonst hingen die
altsächsischen Kaiser so sehr an ihrem heimischen Harze. Man
blättere nur in der hübschen Lüneburger Chronik, wo die guten,
alten Herren in wunderlich treuherzigen Holzschnitten abkonterfeit
sind, wohlgeharnischt, hoch auf ihrem gewappneten Schlachtroß, die
heilige Kaiserkrone auf dem teuren Haupte, Scepter und Schwert in
festen Händen; und auf den lieben, knebelbärtigen Gesichtern kann
man deutlich lesen, wie oft sie sich nach den süßen Herzen ihrer
Harzprinzessinnen und dem traulichen Rauschen der Harzwälder
zurücksehnten, wenn sie in der Fremde weilten, wohl gar in dem
citronen- und giftreichen Welschland, wohin sie und ihre Nachfolger
so oft verlockt wurden von dem Wunsche, römische Kaiser zu heißen,
einer echtdeutschen Titelsucht, woran Kaiser und Reich zu Grunde
gingen.
Ich rate aber jedem, der auf der Spitze des Ilsensteins steht,
weder an Kaiser und Reich, noch an die schöne Ilse, sondern bloß an
seine Füße zu denken. Denn als ich dort stand, in Gedanken
verloren, hörte ich plötzlich die unterirdische Musik des
Zauberschlosses, und ich sah, wie sich die Berge ringsum auf die
Köpfe stellten, und die roten Ziegeldächer zu Ilsenburg anfingen zu
tanzen, und die grünen Bäume in der blauen Luft herum flogen, daß
es mir blau und grün vor den Augen wurde, und ich sicher, vom
Schwindel erfaßt, in den Abgrund gestürzt wäre, wenn ich mich nicht
in meiner Seelennot ans eiserne Kreuz festgeklammert hätte. Daß
ich, in so mißlicher Stellung, dieses letztere gethan habe, wird
mir gewiß niemand verdenken.
* * * * *
Die »Harzreise« ist und bleibt Fragment, und die bunten Fäden,
die so hübsch hineingesponnen sind, um sich im Ganzen harmonisch zu
verschlingen, werden plötzlich, wie von der Schere der
unerbittlichen Parze, abgeschnitten. Vielleicht verwebe ich sie
weiter in künftigen Liedern, und was jetzt kärglich verschwiegen
ist, wird alsdann vollauf gesagt. Am Ende kommt es auch auf eins
heraus, wann und wo man etwas ausgesprochen hat, wenn man es nur
überhaupt einmal ausspricht. Mögen die einzelnen Werke immerhin
Fragmente bleiben, wenn sie nur in ihrer Vereinigung ein Ganzes
bilden. Durch solche Vereinigung mag hier und da das Mangelhafte
ergänzt, das Schroffe ausgeglichen und das Allzuherbe gemildert
werden. Dieses würde vielleicht schon bei den ersten Blättern der
Harzreise der Fall sein, und sie könnten wohl einen minder sauern
Eindruck hervorbringen, wenn man anderweitig erführe, daß der
Unmut, den ich gegen Göttingen im Allgemeinen hege, obschon er noch
größer ist, als ich ihn ausgesprochen, doch lange nicht so groß ist
wie die Verehrung, die ich für einige Individuen dort empfinde. Und
warum sollte ich es verschweigen, ich meine hier ganz besonders
jenen viel teueren Mann, der schon in frühern Zeilen sich so
freundlich meiner annahm, mir schon damals eine innige Liebe für
das Studium der Geschichte einflößte, mich späterhin in dem Eifer
für dasselbe bestärkte, und dadurch meinen Geist auf ruhigere
Bahnen führte, meinem Lebensmute heilsamere Richtungen anwies, und
nur überhaupt jene historischen Tröstungen bereitete, ohne welche
ich die qualvollen Erscheinungen des Tages nimmermehr ertragen
würde. Ich spreche von Georg Sartorius, dem großen
Geschichtsforscher und Menschen, dessen Auge ein klarer Stern ist
in unserer dunkeln Zeit, und dessen gastliches Herz offen steht für
alle fremden Leiden und Freuden, für die Besorgnisse des Bettlers
und des Königs, und für die letzten Seufzer untergehender Völker
und ihrer Götter.
Ich kann nicht umhin, hier ebenfalls anzudeuten, daß der
Oberharz, jener Teil des Harzes, den ich bis zum Anfang des
Ilsethals beschrieben habe, bei weitem keinen so erfreulichen
Anblick wie der romantisch malerische Unterharz gewährt, und in
seiner wildschroffen, tannendüstern Schönheit gar sehr mit
demselben kontrastiert; sowie ebenfalls die drei, von der Ilse, von
der Bode und von der Selke gebildeten Thäler des Unterharzes gar
anmutig unter einander kontrastieren, wenn man den Charakter jedes
Thales zu personificieren weiß. Es sind drei Frauengestalten, wovon
man nicht so leicht zu unterscheiden vermag, welche die Schönste
sei.
Von der lieben, süßen Ilse, und wie süß und lieblich sie mich
empfangen, habe ich schon gesagt und gesungen. Die düstere Schöne,
die Bode empfing mich nicht so gnädig, und als ich sie im
schmiededunkeln Rübeland zuerst erblickte, schien sie gar mürrisch,
und verhüllte sich in einen silbergrauen Regenschleier: aber mit
rascher Liebe warf sie ihn ab, als ich auf die Höhe der Roßtrappe
gelangte, ihr Antlitz leuchtete mir entgegen in sonnigster Pracht,
aus allen Zügen hauchte eine kolossale Zärtlichkeit, und aus der
bezwungenen Felsenbrust drang es hervor wie Sehnsuchtseufzer und
schmelzende Laute der Wehmut. Minder zärtlich, aber fröhlicher
zeigte sich mir die schöne Selke, die schöne, liebenswürdige Dame,
deren edle Einfalt und heitere Ruhe alle sentimentale Familiarität
entfernt hält, die aber doch durch ein halbverstecktes Lächeln
ihren neckenden Sinn verrät; und diesem möchte ich es wohl
zuschreiben, daß mich im Selkethal gar mancherlei kleines Ungemach
heimsuchte, daß ich, indem ich über das Wasser springen wollte,
just in die Mitte hineinplumpste, daß nachher, als ich das nasse
Fußzeug mit Pantoffeln vertauscht hatte, einer derselben mir
abhanden, oder vielmehr abfüßen kam, daß mir ein Windstoß die Mütze
entführte, daß mir Walddornen die Beine zerfetzten, und leider so
weiter. Doch all dieses Ungemach verzeihe ich gern der schönen
Dame, denn sie ist schön. Und jetzt steht sie vor meiner Einbildung
mit all ihrem stillen Liebreiz, und scheint zu sagen: Wenn ich auch
lache, so meine ich es doch gut mit Ihnen, und ich bitte Sie,
besingen sie mich! Die herzliche Bode tritt ebenfalls hervor in
meiner Erinnerung, und ihr dunkles Auge spricht: »Du gleichst mir
im Stolze und im Schmerze, und ich will, daß du mich liebst.« Auch
die schöne Ilse kommt herangesprungen, zierlich und bezaubernd in
Miene, Gestalt und Bewegung; sie gleicht ganz dem holden Wesen, das
meine Träume beseligt, und ganz, wie Sie, schaut sie mich an, mit
unwiderstehlicher Gleichgiltigkeit und doch zugleich so innig, so
ewig, so durchsichtig wahr. -- Nun, ich bin Paris, die drei
Göttinnen stehen vor mir, und den Apfel gebe ich der schönen
Ilse.
Es ist heute der erste Mai, wie ein Meer des Lebens ergießt sich
der Frühling über die Erde, der weiße Blütenschaum bleibt an den
Bäumen hängen, ein weiter, warmer Nebelglanz verbreitet sich
überall, in der Stadt blitzen freudig die Fensterscheiben der
Häuser, an den Dächern bauen die Spatzen wieder ihre Nestchen, auf
der Straße wandeln die Leute, und wundern sich, daß die Lust so
angreifend, und ihnen selbst so wunderlich zu Mute ist, die bunten
Vierländerinnen bringen Veilchensträußer, die Waisenkinder mit
ihren blauen Jäckchen und ihren lieben, unehelichen Gesichtchen
ziehen über den Jungfernstieg und freuen sich, als sollten sie
heute einen Vater wiederfinden, der Bettler an der Brücke schaut so
vergnügt, als hätte er das große Los gewonnen, sogar den schwarzen,
noch ungehenkten Makler, der dort mit seinem spitzbübischen
Manufakturwarengesicht einherläuft, bescheint die Sonne mit ihren
tolerantesten Strahlen, -- ich will hinauswandern vor das Thor.
Es ist der erste Mai, und ich denke deiner, du schöne Ilse --
oder soll ich dich »Agnes« nennen, weil mir dieser Name am besten
gefällt? -- ich denke deiner, und ich möchte wieder zusehen, wie du
leuchtend den Berg hinabläufst. Am liebsten aber möchte ich unten
im Thale stehen und dich auffangen in meine Arme. -- Es ist ein
schöner Tag! -- Überall sehe ich die grüne Farbe, die Farbe der
Hoffnung. Überall, wie holde Wunder, blühen hervor die Blumen, und
auch mein Herz will wieder blühen. Dieses Herz ist auch eine Blume,
eine gar wunderliche. Es ist kein bescheidenes Veilchen, keine
lachende Rose, keine reine Lilie, oder sonstiges Blümchen, das mit
artiger Lieblichkeit den Mädchensinn erfreut, und sich hübsch vor
den hübschen Busen stecken läßt, und heute welkt und morgen wieder
blüht. Dieses Herz gleicht mehr jener schweren, abenteuerlichen
Blume aus den Wäldern Brasiliens, die der Sage nach alle hundert
Jahre nur einmal blüht. Ich erinnere mich, daß ich als Knabe eine
solche Blume gesehen. Wir hörten in der Nacht einen Schuß wie von
einer Pistole, und am folgenden Morgen erzählten mir die
Nachbarskinder, daß es ihre »Aloe« gewesen, die mit solchem Knalle
plötzlich aufgeblüht sei.
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