Von der erhaltenen
Turmhälfte erblickt man hier die imponierende Rückseite.
Es liegen noch viele andre Burgruinen in dieser Gegend. Der
Hardenberg bei Nörten ist die schönste. Wenn man auch, wie es sich
gebührt, das Herz auf der linken Seite hat, auf der liberalen, so
kann man sich doch nicht aller elegischen Gefühle erwehren beim
Anblick der Felsennester jener privilegierten Raubvögel, die auf
ihre schwächliche Nachbrut bloß den starken Appetit vererbten. Und
so ging es auch mir diesen Morgen. Mein Gemüt war, je mehr ich mich
von Göttingen entfernte, allmählich aufgethaut, wieder wie sonst
wurde mir romantisch zu Sinn, und wandernd dichtete ich folgendes
Lied:
Steiget auf, ihr alten Träume! Öffne dich, du Herzensthor!
Liederwonne, Wehmutsthränen Strömen wunderbar hervor.
Durch die Tannen will ich schweifen, Wo die muntre Quelle
springt, Wo die stolzen Hirsche wandeln, Wo die liebe Drossel
singt.
Auf die Berge will ich steigen, Auf die schroffen Felsenhöhn, Wo
die grauen Schloßruinen In dem Morgenlichte stehn.
Dorten setz' ich still mich nieder Und gedenke alter Zeit,
Alter blühender Geschlechter Und versunkner Herrlichkeit.
Gras bedeckt jetzt den Turnierplatz, Wo gekämpft der stolze
Mann, Der die Besten überwunden Und des Kampfes Preis gewann.
Epheu rankt an dem Balkone, Wo die schöne Dame stand, Die den
stolzen Überwinder Mit den Augen überwand.
Ach! den Sieger und die Siegrin Hat besiegt des Todes
Hand -- Jener dürre Sensenritter Streckt uns alle in den
Sand.
Nachdem ich eine Strecke gewandert, traf ich zusammen mit einem
reisenden Handwerksburschen, der von Braunschweig kam und mir als
ein dortiges Gerücht erzählte, der junge Herzog sei auf dem Wege
nach dem gelobten Lande von den Türken gefangen worden, und könne
nur gegen ein großes Lösegeld freikommen. Die große Reise des
Herzogs mag diese Sage veranlaßt haben. Das Volk hat noch immer den
traditionell fabelhaften Ideengang, der sich so lieblich ausspricht
in seinem »Herzog Ernst«. Der Erzähler jener Neuigkeit war ein
Schneidergesell, ein niedlicher, kleiner junger Mensch, so dünn,
daß die Sterne durchschimmern konnten, wie durch Ossians
Nebelgeister, und im Ganzen eine volkstümlich barocke Mischung von
Laune und Wehmut. Dieses äußerte sich besonders in der drollig
rührenden Weise, womit er das wunderbare Volkslied sang: »Ein Käfer
auf dem Zaune saß, summ, summ!« Das ist schön bei uns Deutschen:
Keiner ist so verrückt, daß er nicht einen noch Verrückteren fände,
der ihn versteht. Nur ein Deutscher kann jenes Lied nachempfinden,
und sich dabei totlachen und totweinen. Wie tief das
Goethe'sche Wort ins Leben des Volkes gedrungen, bemerkte ich
auch hier. Mein dünner Weggenosse trillerte ebenfalls zuweilen vor
sich hin: »Leidvoll und freudvoll, Gedanken sind frei!« Solche
Korruption des Textes ist beim Volke etwas Gewöhnliches. Er sang
auch ein Lied, wo »Lottchen bei dem Grabe ihres Werthers« trauert.
Der Schneider zerfloß vor Sentimentalität bei den Worten: »Einsam
wein' ich an der Rosenstelle, wo uns oft der späte Mond
belauscht! Jammernd irr' ich an der Silberquelle, die uns
lieblich Wonne zugerauscht.« Aber bald darauf ging er in Mutwillen
über und erzählte mir: »Wir haben einen Preußen in der Herberge zu
Kassel, der eben solche Lieder selbst macht; er kann keinen seligen
Stich nähen; hat er einen Groschen in der Tasche, so hat er für
zwei Groschen Durst, und wenn er im Thran ist, hält er den Himmel
für ein blaues Kamisol, und weint wie eine Dachtraufe, und singt
ein Lied mit der doppelten Poesie!« Von letzterem Ausdruck wünschte
ich eine Erklärung, aber mein Schneiderlein mit seinen Ziegenhainer
Beinchen hüpfte hin und her und rief beständig: »Die doppelte
Poesie ist die doppelte Poesie!« Endlich brachte ich es heraus, daß
er doppelt gereimte Gedichte, namentlich Stanzen, im Sinne hatte.
-- Unterdes, durch große Bewegung und den konträren Wind, war der
Ritter von der Nadel sehr müde geworden. Er machte freilich noch
einige große Anstalten zum Gehen und bramarbasierte: »Jetzt will
ich den Weg zwischen die Beine nehmen!« Doch bald klagte er, daß er
sich Blasen unter die Füße gegangen, und die Welt viel zu
weitläuftig sei; und endlich bei einem Baumstamme ließ er sich
sachte niedersinken, bewegte sein zartes Häuptlein wie ein
betrübtes Lämmerschwänzchen, und wehmütig lächelnd rief er: »Da bin
ich armes Schindluderchen schon wieder marode!«
Die Berge wurden hier noch steiler, die Tannenwälder wogten
unten wie ein grünes Meer, und am blauen Himmel oben schifften die
weißen Wolken. Die Wildheit der Gegend war durch ihre Einheit und
Einfachheit gleichsam gezähmt. Wie ein guter Dichter liebt die
Natur keine schroffen Übergänge. Die Wolken, so bizarr gestaltet
sie auch zuweilen erscheinen, tragen ein weißes oder doch ein
mildes, mit dem blauen Himmel und der grünen Erde harmonisch
korrespondierendes Kolorit, so daß alle Farben einer Gegend wie
leise Musik in einander schmelzen, und jeder Naturanblick
krampfstillend und gemütberuhigend wirkt. -- Der selige Hoffmann
würde die Wolken buntscheckig bemalt haben. -- Eben wie ein großer
Dichter weiß die Natur auch mit den wenigsten Mitteln die größten
Effekte hervor zu bringen. Da sind nur eine Sonne, Bäume, Blumen,
Wasser und Liebe. Freilich, fehlt letztere im Herzen des
Beschauers, so mag das Ganze wohl einen schlechten Anblick
gewähren, und die Sonne hat dann bloß so und so viel Meilen im
Durchmesser, und die Bäume sind gut zum Einheizen, und die Blumen
werden nach den Staubfäden klassifiziert, und das Wasser ist
naß.
Ein kleiner Junge, der für seinen kranken Oheim im Walde Reisig
suchte, zeigte mir das Dorf Lerrbach, dessen kleine Hütten mit
grauen Dächern sich über eine halbe Stunde durch das Thal
hinziehen. »Dort,« sagte er, »wohnen dumme Kropfleute und weiße
Mohren,« -- mit letzterem Namen werden die Albinos vom Volke
benannt. Der kleine Junge stand mit den Bäumen in gar eigenem
Einverständnis; er grüßte sie wie gute Bekannte, und sie schienen
rauschend seinen Gruß zu erwidern. Er pfiff wie ein Zeisig, ringsum
antworteten zwitschernd die andern Vögel, und ehe ich mich dessen
versah, war er mit seinen nackten Füßchen und seinem Bündel Reisig
ins Walddickicht fortgesprungen. Die Kinder, dacht' ich, sind
jünger als wir, können sich noch erinnern, wie sie ebenfalls Bäume
oder Vögel waren, und sind also noch imstande, dieselben zu
verstehen; unsereins aber ist schon alt und hat zu viel Sorgen,
Jurisprudenz und schlechte Verse im Kopf. Jene Zeit, wo es anders
war, trat mir bei meinem Eintritt in Klausthal wieder recht lebhaft
ins Gedächtnis. In dieses nette Bergstädtchen, welches man nicht
früher erblickt, als bis man davorsteht, gelangte ich, als eben die
Glocke Zwölf schlug und die Kinder jubelnd aus der Schule kamen.
Die lieben Knaben, fast alle rotbäckig, blauäugig und flachshaarig,
sprangen und jauchzten, und weckten in mir die wehmütig heitere
Erinnerung wie ich einst selbst als ein kleines Bübchen in einer
dumpfkatholischen Klosterschule zu Düsseldorf den ganzen lieben
Vormittag von der hölzernen Bank nicht aufstehen durfte, und so
viel Latein, Prügel und Geographie ausstehen mußte, und dann
ebenfalls unmäßig jauchzte und jubelte, wenn die alte
Franziskanerglocke endlich Zwölf schlug. Die Kinder sahen an meinem
Ranzen, daß ich ein Fremder sei, und grüßten mich recht
gastfreundlich. Einer der Knaben erzählte mir, sie hätten eben
Religionsunterricht gehabt, und er zeigte mir den königl. hannov.
Katechismus, nach welchem man ihnen das Christentum abfragt.
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