Ja, Luft! -- Nach Luft schnappend stieg
ich einige Dutzend Leitern wieder in die Höhe, und mein Steiger
führte mich durch einen schmalen, sehr langen, in den Berg
gehauenen Gang nach der Grube Dorothea. Hier ist es luftiger und
frischer, und die Leitern sind reiner, aber auch länger und steiler
als in der Karolina. Hier wurde mir auch besser zu Mute, besonders
da ich wieder Spuren lebendiger Menschen gewahrte. In der Tiefe
zeigten sich nämlich wandelnde Schimmer; Bergleute mit ihren
Grubenlichtern kamen allmählich in die Höhe mit dem Gruße
»Glückauf!« und mit demselben Wiedergruße von unserer Seite stiegen
sie an uns vorüber; und wie eine befreundet ruhige, und doch
zugleich quälend rätselhafte Erinnerung trafen mich mit ihren
tiefsinnig klaren Blicken die ernstfrommen, etwas blassen, und vom
Grubenlicht geheimnisvoll beleuchteten Gesichter dieser jungen und
alten Männer, die in ihren dunkeln, einsamen Bergschachten den
ganzen Tag gearbeitet hatten, und sich jetzt hinaufsehnten nach dem
lieben Tageslicht, und nach den Augen von Weib und Kind.
Mein Cicerone selbst war eine kreuzehrliche, pudeldeutsche
Natur. Mit innerer Freudigkeit zeigte er mir jene Stelle, wo der
Herzog von Cambridge, als er die Grube befahren, mit seinem ganzen
Gefolge gespeist hat, und wo noch der lange hölzerne Speisetisch
steht, so wie auch der große Stuhl von Erz, worauf der Herzog
gesessen. Dieser bleibe zum ewigen Andenken stehen, sagte der gute
Bergmann, und mit Feuer erzählte er, wie viele Festlichkeiten
damals stattgefunden, wie der ganze Stollen mit Lichtern, Blumen
und Laubwerk verziert gewesen, wie ein Bergknappe die Zither
gespielt und gesungen, wie der vergnügte, liebe, dicke Herzog sehr
viele Gesundheiten ausgetrunken habe, und wie viele Bergleute, und
er selbst ganz besonders, sich gern würden totschlagen lassen für
den lieben, dicken Herzog und das ganze Haus Hannover. -- Innig
rührt es mich jedesmal, wenn ich sehe, wie sich dieses Gefühl der
Unterthanstreue in seinen einfachen Naturlauten ausspricht. Es ist
ein so schönes Gefühl! Und es ist ein so wahrhaft deutsches Gefühl!
Andere Völker mögen gewandter sein und witziger und ergötzlicher,
aber keins ist so treu wie das treue deutsche Volk. Wüßte ich
nicht, daß die Treue so alt ist wie die Welt, so würde ich glauben,
ein deutsches Herz habe sie erfunden. Deutsche Treue! sie ist keine
moderne Adressenfloskel. An euren Höfen, ihr deutschen Fürsten,
sollte man singen und wieder singen das Lied von dem getreuen
Eckart und dem bösen Burgund, der ihm die lieben Kinder töten
lassen, und ihn alsdann doch noch immer treu befunden hat. Ihr habt
das treueste Volk, und ihr irrt, wenn ihr glaubt, der alte
verständige, treue Hund sei plötzlich toll geworden, und schnappe
nach euren geheiligten Waden.
Wie die deutsche Treue, hatte uns jetzt das kleine Grubenlicht
ohne viel Geflacker still und sicher geleitet durch das Labyrinth
der Schachten und Stollen; wir stiegen hervor aus der dumpfigen
Bergnacht, das Sonnenlicht strahlte -- Glückauf!
Die meisten Bergarbeiter wohnen in Klausthal und in dem damit
verbundenen Bergstädtchen Zellerfeld. Ich besuchte mehrere dieser
wackern Leute, betrachtete ihre kleine häusliche Einrichtung, hörte
einige ihrer Lieder, die sie mit der Zither, ihrem
Lieblingsinstrumente, gar hübsch begleiten, ließ mir alte
Bergmärchen von ihnen erzählen und auch die Gebete hersagen, die
sie in Gemeinschaft zu halten pflegen, ehe sie in den dunkeln
Schacht hinuntersteigen, und manches gute Gebet habe ich
mitgebetet. Ein alter Steiger meinte sogar, ich sollte bei ihnen
bleiben und Bergmann werden; und als ich dennoch Abschied nahm, gab
er mir einen Auftrag an seinen Bruder, der in der Nähe von Goslar
wohnt, und viele Küsse für seine liebe Nichte.
So stillstehend ruhig auch das Leben dieser Leute erscheint, so
ist es dennoch ein wahrhaftes, lebendiges Leben. Die steinalte,
zitternde Frau, die, dem großen Schranke gegenüber, hinterm Ofen
saß, mag dort schon ein Vierteljahrhundert lang gesessen haben, und
ihr Denken und Fühlen ist gewiß innig verwachsen mit allen Ecken
dieses Ofens und allen Schnitzeleien dieses Schrankes. Und Schrank
und Ofen leben, denn ein Mensch hat ihnen einen Teil seiner Seele
eingeflößt.
Nur durch solch tiefes Anschauungsleben, durch die
»Unmittelbarkeit« entstand die deutsche Märchenfabel, deren
Eigentümlichkeit darin besteht, daß nicht nur die Tiere und
Pflanzen, sondern auch ganz leblos scheinende Gegenstände sprechen
und handeln. Sinnigem, harmlosem Volke in der stillen, umfriedeten
Heimlichkeit seiner niedern Berg- oder Waldhütten offenbarte sich
das innere Leben solcher Gegenstände, diese gewannen einen
notwendigen, konsequenten Charakter, eine süße Mischung von
phantastischer Laune und rein menschlicher Gesinnung; und so sehen
wir im Märchen, wunderbar und doch als wenn es sich von selbst
verstände: Nähnadel und Stecknadel kommen von der Schneiderherberge
und verirren sich im Dunkeln; Strohhalm und Kohle wollen über den
Bach setzen und verunglücken; Schippe und Besen stehen auf der
Treppe und zanken und schmeißen sich; der befragte Spiegel zeigt
das Bild der schönsten Frau; sogar die Blutstropfen fangen an zu
sprechen, bange dunkle Worte des besorglichsten Mitleids. -- Aus
demselben Grunde ist unser Leben in der Kindheit so unendlich
bedeutend, in jener Zeit ist uns alles gleich wichtig, wir hören
alles, wir sehen alles, bei allen Eindrücken ist Gleichmäßigkeit,
statt wir später absichtlicher werden, uns mit dem Einzelnen
ausschließlicher beschäftigen, das klare Gold der Anschauung für
das Papiergeld der Bücherdefinitionen mühsam einwechseln, und an
Lebensbreite gewinnen, was wir an Lebenstiefe verlieren. Jetzt sind
wir ausgewachsene, vornehme Leute; wir beziehen oft neue Wohnungen,
die Magd räumt täglich auf, und verändert nach Gutdünken die
Stellung der Möbeln, die uns wenig interessieren, da sie entweder
neu sind, oder heute dem Hans, morgen dem Isaak gehören; selbst
unsere Kleider bleiben uns fremd, wir wissen kaum, wie viel Knöpfe
an dem Rocke sitzen, den wir eben jetzt auf dem Leibe tragen; wir
wechseln ja so oft als möglich mit Kleidungsstücken, keines
derselben bleibt im Zusammenhange mit unserer inneren und äußeren
Geschichte; -- kaum vermögen wir uns zu erinnern, wie jene braune
Weste aussah, die uns einst so viel Gelächter zugezogen hat, und
auf deren breiten Streifen dennoch die liebe Hand der Geliebten so
lieblich ruhte!
Die alte Frau, dem großen Schrank gegenüber hinterm Ofen, trug
einen geblümten Rock von verschollenem Zeuge, das Brautkleid ihrer
seligen Mutter. Ihr Urenkel, ein als Bergmann gekleideter blonder,
blitzäugiger Knabe, saß zu ihren Füßen und zählte die Blumen ihres
Rockes, und sie mag ihm von diesem Rocke wohl schon viele
Geschichtchen erzählt haben, viele ernsthafte hübsche Geschichten,
die der Junge gewiß nicht so bald vergißt, die ihm noch oft
vorschweben werden, wenn er bald als ein erwachsener Mann in den
nächtlichen Stollen der Karolina einsam arbeitet, und die er
vielleicht wieder erzählt, wenn die liebe Großmutter längst tot
ist, und er selber ein silberhaariger, erloschener Greis, im Kreise
seiner Enkel sitzt, dem großen Schranke gegenüber, hinterm
Ofen.
Ich blieb die Nacht ebenfalls in der Krone, wo unterdessen auch
der Hofrat B. aus Göttingen angekommen war. Ich hatte das
Vergnügen, dem alten Herrn meine Aufwartung zu machen. Als ich mich
ins Fremdenbuch einschrieb und im Monat Juli blätterte, fand ich
auch den vielteuern Namen Adalbert von Chamisso, den Biographen des
unsterblichen Schlemihl. Der Wirt erzählte mir, dieser Herr sei in
einem unbeschreibbar schlechten Wetter angekommen, und in einem
eben so schlechten Wetter wieder abgereist.
Den andern Morgen mußte ich meinen Ranzen nochmals erleichtern,
das eingepackte Paar Stiefel warf ich über Bord, und ich hob auf
meine Füße und ging nach Goslar. Ich kam dahin, ohne zu wissen wie.
Nur soviel kann ich mich erinnern: ich schlenderte wieder bergauf,
bergab, schaute hinunter in manches hübsche Wiesenthal; silberne
Wasser brausten, süße Waldvögel zwitscherten, die Herdenglöckchen
läuteten, die mannigfaltig grünen Bäume wurden von der lieben Sonne
goldig angestrahlt, und oben war die blauseidene Decke des Himmels
so durchsichtig, daß man tief hinein schauen konnte bis ins
Allerheiligste, wo die Engel zu den Füßen Gottes sitzen, und in den
Zügen seines Antlitzes den Generalbaß studieren. Ich aber lebte
noch in dem Traum der vorigen Nacht, den ich nicht aus meiner Seele
verscheuchen konnte. Es war das alte Märchen, wie ein Ritter
hinabsteigt in einen tiefen Brunnen, wo unten die schönste
Prinzessin zu einem starren Zauberschlafe verwünscht ist. Ich
selbst war der Ritter, und der Brunnen die dunkle Klausthaler
Grube, und plötzlich erschienen viele Lichter, aus allen
Seitenlöchern stürzten die wachsamen Zwerglein, schnitten zornige
Gesichter, hieben nach mir mit ihren kurzen Schwertern, bliesen
gellend ins Horn, daß immer mehr und mehr herzu eilten, und es
wackelten entsetzlich ihre breiten Häupter. Wie ich darauf zuschlug
und das Blut herausfloß, merkte ich erst, daß es die rotblühenden,
langbärtigen Distelköpfe waren, die ich den Tag vorher an der
Landstraße mit dem Stocke abgeschlagen hatte. Da waren sie auch
gleich alle verscheucht, und ich gelangte in einen hellen
Prachtsaal; in der Mitte stand, weiß verschleiert, und wie eine
Bildsäule starr und regungslos, die Herzgeliebte, und ich küßte
ihren Mund, und, beim lebendigen Gott! ich fühlte den beseligenden
Hauch ihrer Seele und das süße Beben der lieblichen Lippen.
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