Es war
mir, als hörte ich, wie Gott rief: »Es werde Licht!« blendend schoß
herab ein Strahl des ewigen Lichts; aber in demselben Augenblick
wurde es wieder Nacht, und alles rann chaotisch zusammen in ein
wildes, wüstes Meer. Ein wildes, wüstes Meer! über das gährende
Wasser jagten ängstlich die Gespenster der Verstorbenen, ihre
weißen Totenhemden flatterten im Winde, hinter ihnen her, hetzend,
mit klatschender Peitsche lief ein buntscheckiger Harlekin, und
dieser war ich selbst -- und plötzlich, aus den dunkeln Wellen,
reckten die Meerungetüme ihre mißgestalteten Häupter, und langten
nach mir mit ausgebreiteten Krallen, und vor Entsetzen erwacht'
ich.
Wie doch zuweilen die allerschönsten Märchen verdorben werden!
Eigentlich muß der Ritter, wenn er die schlafende Prinzessin
gefunden hat, ein Stück aus ihrem kostbaren Schleier heraus
schneiden; und wenn durch seine Kühnheit ihr Zauberschlaf gebrochen
ist, und sie wieder in ihrem Palast auf dem goldenen Stuhle sitzt,
muß der Ritter zu ihr treten und sprechen: »Meine allerschönste
Prinzessin, kennst du mich?« Und dann antwortet sie: »Mein
allertapferster Ritter, ich kenne dich nicht.« Und dieser zeigt ihr
alsdann das aus ihrem Schleier herausgeschnittene Stück, das just
in denselben wieder hineinpaßt, und beide umarmen sich zärtlich,
und die Trompeter blasen, und die Hochzeit wird gefeiert.
Es ist wirklich eigenes Mißgeschick, daß meine Liebesträume
selten ein so schönes Ende nehmen.
Der Name Goslar klingt so erfreulich, und es knüpfen sich daran
so viele uralte Kaisererinnerungen, daß ich eine imposante,
stattliche Stadt erwartete. Aber so geht es, wenn man die Berühmten
in der Nähe besieht! Ich fand ein Nest mit meistens schmalen,
labyrinthisch krummen Straßen, allwo mittendurch ein kleines
Wasser, wahrscheinlich die Gose, fließt, verfallen und dumpfig, und
ein Pflaster, so holprig wie Berliner Hexameter. Nur die
Altertümlichkeiten der Einfassung, nämlich Reste von Mauern, Türmen
und Zinnen, geben der Stadt etwas Pikantes. Einer dieser Türme, der
Zwinger genannt, hat so dicke Mauern, daß ganze Gemächer darin
ausgehauen sind. Der Platz vor der Stadt, wo der weitberühmte
Schützenhof gehalten wird, ist eine schöne große Wiese, ringsum
hohe Berge. Der Markt ist klein, in der Mitte steht ein
Springbrunnen, dessen Wasser sich in ein großes Metallbecken
ergießt. Bei Feuersbrünsten wird einigemal daran geschlagen; es
giebt dann einen weitschallenden Ton. Man weiß nichts vom Ursprunge
dieses Beckens. Einige sagen, der Teufel habe es einst zur
Nachtzeit dort auf den Markt hingestellt. Damals waren die Leute
noch dumm, und der Teufel war auch dumm, und sie machten sich
wechselseitig Geschenke.
Das Rathaus zu Goslar ist eine weißangestrichene Wachtstube. Das
danebenstehende Gildenhaus hat schon ein besseres Ansehen. Ungefähr
von der Erde und vom Dach gleich weit entfernt stehen da die
Standbilder deutscher Kaiser, räucherig schwarz und zum Teil
vergoldet, in der einen Hand das Scepter, in der andern die
Weltkugel; sehen aus wie gebratene Universitätspedelle. Einer
dieser Kaiser hält ein Schwert, statt des Scepters. Ich konnte
nicht erraten, was dieser Unterschied sagen will; und es hat doch
gewiß seine Bedeutung, da die Deutschen die merkwürdige Gewohnheit
haben, daß sie bei allem, was sie thun, sich auch etwas denken.
In Gottschalks »Handbuch« hatte ich von dem uralten Dom und von
dem berühmten Kaiserstuhl zu Goslar viel gelesen. Als ich aber
beides besehen wollte, sagte man mir, der Dom sei niedergerissen
und der Kaiserstuhl nach Berlin gebracht worden. Wir leben in einer
bedeutungsschweren Zeit: tausendjährige Dome werden abgebrochen,
und Kaiserstühle in die Rumpelkammer geworfen.
Einige Merkwürdigkeiten des seligen Doms sind jetzt in der
Stephanskirche aufgestellt. Glasmalereien, die wunderschön sind,
einige schlechte Gemälde, worunter auch ein Lukas Cranach sein
soll, ferner ein hölzerner Christus am Kreuz, und ein heidnischer
Opferaltar aus unbekanntem Metall; er hat die Gestalt einer
länglich viereckigen Lade, und wird von Karyatiden getragen, die,
in geduckter Stellung, die Hände stützend über dem Kopfe halten,
und unerfreulich häßliche Gesichter schneiden. Indessen noch
unerfreulicher ist das dabeistehende, schon erwähnte große hölzerne
Kruzifix. Dieser Christuskopf mit natürlichen Haaren und Dornen und
blutbeschmiertem Gesichte zeigt freilich höchst meisterhaft das
Hinsterben eines Menschen, aber nicht eines gottgebornen Heilands.
Nur das materielle Leiden ist in dieses Gesicht hineingeschnitzelt,
nicht die Poesie des Schmerzes. Solch Bild gehört eher in einen
anatomischen Lehrsaal, als in ein Gotteshaus. Die kunsterfahrene
Frau Küsterin, die mich herumführte, zeigte mir noch als ganz
besondere Rarität ein vieleckiges, wohlgehobeltes, schwarzes, mit
weißen Zahlen bedecktes Stück Holz, das ampelartig in der Mitte der
Kirche hängt. O, wie glänzend zeigt sich hier der Erfindungsgeist
in der protestantischen Kirche! Denn, wer sollte dies denken! Die
Zahlen auf besagtem Stück Holze sind die Psalmennummern, welche
gewöhnlich mit Kreide auf einer schwarzen Tafel verzeichnet werden
und auf den ästhetischen Sinn etwas nüchtern wirken, aber jetzt
durch obige Erfindung sogar zur Zierde der Kirche dienen, und die
so oft darin vermißten Raphaelschen Bilder hinlänglich ersetzen.
Solche Fortschritte freuen mich unendlich, da ich, der ich
Protestant und zwar Lutheraner bin, immer tief betrübt worden, wenn
katholische Gegner das leere, gottverlassene Ansehn
protestantischer Kirchen bespötteln konnten.
Ich logierte in einem Gasthofe nahe dem Markte, wo mir das
Mittagessen noch besser geschmeckt haben würde, hätte sich nur
nicht der Herr Wirt mit seinem langen, überflüssigen Gesichte und
seinen langweiligen Fragen zu mir hingesetzt; glücklicher Weise
ward ich bald erlöst durch die Ankunft eines andern Reisenden, der
dieselben Fragen in derselben Ordnung aushalten mußte:
quis? quid? ubi? quibus auxiliis? cur? quomodo? quando?
Dieser Fremde war ein alter, müder, abgetragener Mann, der, wie aus
seinen Reden hervorging, die ganze Welt durchwandert, besonders
lang auf Batavia gelebt, viel Geld erworben und wieder alles
verloren hatte, und jetzt, nach dreißigjähriger Abwesenheit, nach
Quedlinburg, seiner Vaterstadt zurückkehrte, -- »denn,« setzte er
hinzu, »unsere Familie hat dort ihr Erbbegräbnis.« Der Herr Wirt
machte die sehr aufgeklärte Bemerkung, daß es doch für die Seele
gleichgiltig sei, wo unser Leib begraben wird. »Haben sie es
schriftlich?« antwortete der Fremde, und dabei zogen sich
unheimlich schlaue Ringe um seine kümmerlichen Lippen und
verblichenen Äugelein. »Aber,« setzte er ängstlich begütigend
hinzu, »ich will darum über fremde Gräber doch nichts Böses gesagt
haben; -- die Türken begraben ihre Toten noch weit schöner als wir,
ihre Kirchhöfe sind ordentlich Gärten, und da sitzen sie auf ihren
weißen, beturbanten Grabsteinen, unter dem Schatten einer Cypresse,
und streichen ihre ernsthaften Bärte, und rauchen ruhig ihren
türkischen Tabak aus ihren langen türkischen Pfeifen; -- und bei
den Chinesen gar ist es eine ordentliche Lust zuzusehen, wie sie
auf den Ruhestätten ihrer Toten manierlich herumtänzeln, und beten,
und Thee trinken, und die Geige spielen, und die geliebten Gräber
gar hübsch zu verzieren wissen mit allerlei vergoldetem Lattenwerk,
Porzellanfigürchen, Fetzen von buntem Seidenzeug, künstlichen
Blumen und farbigen Laternchen -- alles sehr hübsch -- wie weit
hab' ich noch bis Quedlinburg?«
Der Kirchhof in Goslar hat mich nicht sehr angesprochen. Desto
mehr aber jenes wunderschöne Lockenköpfchen, das bei meiner Ankunft
in der Stadt aus einem etwas hohen Parterrefenster lächelnd heraus
schaute. Nach Tische suchte ich wieder das liebe Fenster; aber
jetzt stand dort nur ein Wasserglas mit weißen Glockenblümchen. Ich
kletterte hinauf, nahm die artigen Blümchen aus dem Glase, steckte
sie ruhig auf meine Mütze und kümmerte mich wenig um die
aufgesperrten Mäuler, versteinerten Nasen und Glotzaugen, womit die
Leute auf der Straße, besonders die alten Weiber, diesem
qualificierten Diebstahle zusahen. Als ich eine Stunde später an
demselben Hause vorbeiging, stand die Holde am Fenster, und wie sie
die Glockenblümchen auf meiner Mütze gewahrte, wurde sie blutrot
und stürzte zurück. Ich hatte jetzt das schöne Antlitz noch genauer
gesehen; es war eine süße, durchsichtige Verkörperung von
Sommerabendhauch, Mondschein, Nachtigallenlaut und Rosenduft.
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