Wer in einem der kleinen, schmutzigen Häuser des Ghetto geboren ist, wächst in Ehrfurcht und Bewunderung auf vor diesem Hause und seinem Besitzer, dem alten Moses Freudenthal. Dieses Haus und dieser Mann sind der Stolz von Barnow. Und Beide rechtfertigen auch, jedes in seiner Weise, diesen Stolz.
Da ist zuerst das Haus. Es ist, als wüßte es seinen Wert, so stolz und stattlich steht es da in seinem weißen, reinlichen Aufputz, mit der langen, glänzenden Fensterreihe des ersten Stockwerks, mit den bunten Kaufläden zu ebener Erde, zu beiden Seiten des mächtigen Thorwegs, der einladend geöffnet ist. Denn dieses Haus ist ein Einkehrhaus und die Edelleute wissen seine Vorzüge zu schätzen, wenn sie ins Bezirksamt oder zum Wochenmarkt in die Stadt kommen, und ebenso die Kavallerieoffiziere aus den Dörfern der Umgegend, wenn sie die Langweile hereintreibt. Aber daneben ist das Haus auch ein Zinshaus, denn im ersten Stockwerk wohnen die vornehmsten Honoratioren von Barnow, der Bezirksrichter und der Arzt, zur Miete und daneben – noch alles Mögliche dazu. Denn es ist fast schwer zu sagen, was alles im Erdgeschoße zusammengedrängt ist. Da findet sich eine Lottokollektur und eine Assekuranz-Agentschaft für Vieh, Menschen und Getreide, eine Tuchhandlung und ein Spezereiwarenladen, eine Weinstube für die vornehmen Gäste und ein Branntweinschank für die Bauern. Und Kollekteur, Agent, Kaufmann und Wirt, dies Alles ist Moses Freudenthal.
Aber der alte, hochgewachsene Mann mit den düsteren Zügen ist noch weit mehr. Seine Familie ist seit Menschengedenken die vornehmste im Städtchen, sein Betständer in der »Schul'« steht der erste in der ersten Reihe. Wie nach seines Großvaters Tode sein Vater, so ist er nach seines Vaters Tode Vorstand der Gemeinde geworden, ohne daß er sich darum beworben, ohne daß es Jemand eingefallen wäre, ihn nicht zu wählen. Er gilt als der frömmste und ehrlichste Mann der Judenschaft. Und dazu sein Reichtum, sein ungeheurer Reichtum!
Seine Glaubensgenossen halten ihn für einen Millionär und sie haben Recht. Denn ihm gehört nicht nur das Haus mit all' dem, was d'rum und d'ran ist, auch mehrere Güter der Umgegend kann er mit größerem Rechte sein nennen, als die polnischen Barone und Edelleute, die auf ihnen sitzen. Und das herrliche Gut Komorówka gehört vollends ihm, nachdem es die früheren Eigentümer, der kleine Graf Smólski und seine schöne Gemahlin Aurora, in wenigen Jahren vergeudet. Es ist ein schönes, großes Gut, und der Graf hatte nicht grundlos aus Verzweiflung den größten Rausch seines Lebens, als er es verlassen mußte.
Würde es euch nach all' dem wundern, wenn ihr hören würdet, daß Moses Freudenthal nicht nur der reichste und stolzeste, sondern auch der meist beneidete Mann des Ortes ist?! Aber dem ist nicht so. Fraget den ärmsten Mann in der Judenstadt, den Thoralehrer, der mit seinen sechs Kindern am Hungertuche nagt, oder den Wasserträger, der die Woche hindurch vom frühen Morgen bis zum späten Abend vom und zum Stadtbrunnen keucht, fragt sie, ob sie mit Moses tauschen wollen, und sie würden euch »Nein« sagen. Denn größer als dieses Mannes Reichtum ist sein Unglück.
Ihr könnt es ihm freilich nicht vom Gesicht ablesen, wenn ihr ihn so stolz und stattlich vor dem Thorwege seines Hauses stehen seht. Unter dem kleinen schwarzen Sammetkäppchen quillt das Haar silbergrau hervor; silbergrau und dünn sind auch die beiden langen Locken, die nach der Weise der Chassidim an den Wangen herabfließen. Aber die Gestalt ist noch kräftig und ungebeugt, und der seltsam geschnittene, talarähnliche Judenrock aus schwarzem Tuche kleidet sie stattlich genug. Der alte Mann steht fast bewegungslos da und sieht dem Anstreicher zu, der die Thüre des Branntweinladens mit frischer, giftgrüner Farbe überzieht und Flasche, Glas und Bretze gelb und weiß darauf malt. Nur selten wendet er den Blick ab, um einem Grüßenden zu danken. Denn es ist heute wenig Leben auf der Gasse. Ein Haufe ruthenischer Bauern torkelt angetrunken zur Stadt hinaus; ein Edelmann fährt in leichter Britschka vorüber; einige arme Dorfgeher, welche die Woche über von Bauernhof zu Bauernhof gegangen und für Geld und Tücher Felle eingetauscht, ziehen mit der erhandelten Ware auf dem Rücken wieder ein. Die Last ist schwer und der Erlös gering, aber auf den bleichen, abgehärmten oder verschmitzten Gesichtern ruht doch ein Schimmer der Freude und des Stolzes. Denn wenige Stunden noch und sie sind nicht mehr elende, mit Lumpen bekleidete Schacherjuden, an denen der Bauer seinen Witz und seine Peitsche prüft, sondern stolze Fürsten, die jubelnd in ihrem Palaste die wonnige Braut empfangen – die Sabbathruhe.
Nur wenige Stunden noch, denn die Sonne neigt zum Untergang und der Freitag Nachmittag geht zu Ende. In den Häusern rüsten sie überall für den Ruhetag; die Gasse liegt im hellen Sonnenglanze verödet. Nur vom Amte her kommt der Bezirksrichter, der gelbe, magere Herr Lozinski, mit einem jungen Fremden den Weg herauf und bleibt einige Minuten plaudernd bei Moses stehen, ehe er die Treppe zu seiner Wohnung emporsteigt. Sie sprechen von den schlechten Zeiten, wie hoch das Agio stehe, und dann, wie schön sich diesmal der April anlasse. Und es ist auch heute ein so lieber, rechter Frühlingstag, wie ihn dieses Land sonst kaum im Mai zu erleben pflegt.
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