54 - Deutsche Helden, Deutsche Herzen 06 - Die Kosaken
Karl May
Die Kosaken
Deutsche Helden, Deutsche Herzen 6
Der Text dieser Ausgabe folgt in sorgfältiger Überarbeitung
der Textgestalt des ehemaligen Verlags von H.G. Münchmeyer, Dresden,
die von Karl May selbst geschaffen wurde.
Die Orthographie wurde der heutigen Schreibweise angeglichen
Copyright © 1983 by Manfred Pawlak Verlagsgesellschaft mbH, Herrsching
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Umschlagentwurf: Bine Cordes, Weyarn,
unter Verwendung von Zeichnungen von Helmut Preiß
Gesamtherstellung: Eisnerdruck GmbH, Berlin
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ERSTES KAPITEL
Der Zobeljäger
Mehrere der halbwilden asiatischen Stämme, die in der Nähe des Baikalsees wohnen, sind militärisch organisiert und müssen unter dem Namen der Baikalkosaken den Grenzdienst versehen. Sie haben die Aufgabe, den Schmuggel zwischen Rußland und China zu verhindern, ganz besonders aber haben sie ihr Augenmerk darauf zu richten, daß die zur Deportation nach Sibirien Verurteilten sich nicht über die chinesische Grenze flüchten können.
Diese Kosaken sind teils Kavalleristen, teils unberittene Schützen, teils Artilleristen. Insbesondere ist ihnen der Schutz der reichen Erzgruben von Nertschinsk und die Bewachung der großen Karawanenstraße übertragen, die von Peking aus durch die Mongolenwüste über Kiachta nach dem russischen Gebiet führt.
Der eigentliche Grenzkordon besteht aus befestigten Dörfern, zwischen denen kleinere Schanzen errichtet sind. Von Schanze zu Schanze wird die Verbindung durch berittene Piketts aufrechterhalten.
In der Nähe eines jeden Dorfes und einer jeden Schanze befindet sich eine sogenannte Wischka. Das ist eine aus drei Baumstämmen errichtete hohe Pyramide, zu der eine Stufenleiter emporführt. Oben ist ein Fanal angebracht, aus Werg und Teer oder Reisig hergestellt. Stets sitzt dort oben ein Posten, der die ganze Gegend überblicken kann. Sobald er bemerkt, daß ein Flüchtling die Grenze überschreitet, brennt er das Fanal an, dessen Feuerschein bei Nacht weithin leuchtet und dessen Rauch bei Tag viele Werst weit zu sehen ist. Dadurch wird die Grenze alarmiert. Außerdem wird dieselbe an jedem Morgen beritten, um die Spuren etwaiger Flüchtlinge zu finden.
Jedem dieser russischen Posten gegenüber befindet sich ein chinesischer. Sie sind einander zu gegenseitiger Hilfe verpflichtet, und es ist also für einen flüchtigen Verbannten, selbst wenn es ihm gelungen sein sollte, aus seiner schweren Gefangenschaft im Inneren des Landes zu entkommen, keineswegs leicht, den letzten, erlösenden Schritt zu tun und über die doppelt besetzte und scharf bewachte Grenze zu gelangen.
Und selbst wenn ihm dies mit Aufbietung allen Fleißes, aller List und allen Mutes glückt, so steht er allein und ohne alle Hilfsmittel da, hinter sich ein Land, in dem ihn eine fürchterliche Strafe erwartet, falls er zurückkehrt, und vor sich eine unendliche Wüste, deren Schrecknisse und Gefahren nicht geringer sind als diejenigen der berüchtigten Sahara in Afrika.
Daher können Männer, die aus Sibirien glücklich entkommen, leicht an den Fingern hergezählt werden.
Aber in Sibirien selbst gibt es viele, viele, die entflohen sind, ohne daß es ihnen gelingen will, aus dem Land zu entkommen. Ihr einziger Schutz ist die Öde des Landes, wo sie tausend Verstecke finden können. Sie führen ein armseliges, elendes Leben und gehen meist, in die tiefen Sümpfe gehetzt, von Hunger und Durst gequält, von den fürchterlichen Mückenschwärmen bis auf den Tod gepeinigt, auf ganz unbeschreibliche Weise zugrunde.
Und doch sind auch sie nicht ohne allen Schutz. Wenn schon der Russe gutmütig ist, so besitzen die sibirischen Völkerschaften diese lobenswerte Tugend in noch weit höherem Grad. Es fällt diesen Leuten nicht ein, den Verbannten zu verurteilen. Sie wissen recht gut, daß bei der Weise, in der das unendliche Reich regiert und verwaltet wird, gar mancher völlig unschuldig oder wohl nur wegen einer sehr zu entschuldigenden Ursache nach Sibirien verbannt wird. Der freie Bewohner schenkt sein Mitleid gern diesen Menschen und nennt die Verurteilten nicht anders als ‚arme Leute‘. Er darf sie zwar nicht direkt beschützen, darf ihnen keine augenfällige Hilfe gewähren, desto mehr aber tut er dies indirekt und heimlich.
In unzähligen Häusern gibt es ein gewisses Fenster, das niemals durch einen Laden verschlossen wird. Es ist so eingerichtet, daß es sowohl von innen als auch von außen geöffnet werden kann, und des Nachts brennt stets ein kleines Lichtchen hinter demselben. Auf dieses Fenster setzt man Speise und Trank, auch anderes, was der Flüchtige in seiner Lage gebrauchen kann. Dieser kommt dann heimlich herbeigeschlichen und nimmt weg, was er findet. Sind am anderen Morgen die Gaben fort, so flüstern sich die Bewohner des Hauses erfreut zu:
„Die ‚armen Leute‘ waren da, sie haben es geholt.“
Es kommt auch vor, daß man ihnen in dem kleinen Gemach, zu dem dieses Fenster führt, ein Lager bereitet, besonders im Winter, wenn der Schneesturm über die Ebenen heult. Findet man nun am Morgen, daß so ein ‚Armer‘ dagewesen ist und einmal unter Dach und Fach geschlafen hat, so ist man ganz glücklich darüber.
Freilich müssen die Flüchtlinge gar vorsichtig sein, denn es passiert auch, daß schlechte Menschen sie durch dieses Fenster anlocken und sodann festhalten, um sie der Polizei zu übergeben. Ein solcher Verräter wird aber so allgemein verachtet, daß es ihm in Zukunft nicht leicht wird, sich unter anderen Menschen sehen zu lassen. – – –
Da, wo der Mückenfluß, von Osten kommend, sich in den Baikalsee ergießt, treten die den See umgebenden Berge weit auseinander und bilden eine Ebene, die, rings von Höhen eingeschlossen, vor den verderblichen Stürmen geschützt ist. Darum ist sie sehr fruchtbar, und es gedeihen da Pflanzen, die sogar in südlicheren Gegenden nicht vorkommen.
Die Ebene bildet ein Dreieck, dessen Grundlinie nach dem Inneren des Landes gerichtet ist, während die Spitze als enger Felsenpaß nach dem See führt.
Ungefähr eine halbe Werst, also zehn Minuten weit vom Ufer entfernt, lag ein ansehnlicher Komplex von meist aus Holz gebauten und nur aus dem Erdgeschoß bestehenden Häusern. Diese Gebäude hätte man in Deutschland als einen bedeutenden Meierhof bezeichnet. Ringsum breiteten sich Felder und saftige Grasflächen aus, auf denen Pferde, Rinder und Schafe weideten. Alles hatte den Anstrich einer in dieser Gegend seltenen Wohlhabenheit.
Das schmuckste der Gebäude war das Wohnhaus, dessen Fenster sogar mit Glasscheiben versehen waren. Einige hohe, dichtbelaubte Bäume beschatteten das niedrige Dach.
Unter diesen Bäumen, im Schatten derselben, saßen mehrere Mädchen, fleißig die Räder drehend, um das landesübliche Gespinst zu fertigen.
Blickte man sie aufmerksamer an, so kam man sehr bald zu der Ansicht, daß die eine von ihnen, die hübscheste, die Herrin sei, während die anderen jedenfalls zum Gesinde gehörten.
Das hübsche Kind, dessen Züge auf eine westliche Abstammung deuteten, war Mila Dobronitsch, die Freundin Karpalas.
Hätte sie gestanden, so hätte man ihre hohe, schlanke und doch volle Gestalt besser betrachten können.
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