Ihr rosiges Gesichtchen war von einer Fülle hellblonder Flechten umrahmt, wie man sie in dieser Färbung am häufigsten in Estland findet. Sie trug einen roten, kurzen Rock und ein schwarzes, mit Stahlschnallen versehenes Mieder, aus dem der Brustteil und die kurzen Ärmel des Hemds schneeig hervorblicken.

Trotz der Emsigkeit, mit der diese Mädchen arbeiteten, war eine sehr angeregte Unterhaltung im Gange. Es schien, als ob die roten Lippen sich ebenso fleißig bewegten wie die Spinnräder.

Mila saß etwas seitwärts von den anderen. Sie als Herrin beteiligte sich an dem Gespräch nur in der Weise, daß sie hier und da eine an sie gerichtete Frage freundlich beantwortete, denn sie war innerlich wohl ernster angelegt als die anderen. Da hörte sie in einem Augenblick, in dem ganz zufällig das Summen der Räder verstummte, zwei von den Mägden flüstern. Die eine sagte:

„Bitte sie nur! sie wird es tun. Es ist ihr Lieblingslied, und wir singen mit.“

Mila hatte das wohl gehört, sie wandte sich den beiden zu.

„Ja“, sagte sie. „Beim Spinnen soll man singen, weil da die Arbeit doppelt schnell vonstatten geht. Also hört!“

Und sie sang mit einer schönen, schmelzenden Altstimme:

„Auf, tanze, mein Rädchen!
Noch fehlt im Gespinst
Manch seidenes Fädchen
Zum vollen Gewinst.
 

Noch fehlt es an Linnen
In Mütterleins Schrein;
Drum mußt du, lieb' Rädchen,
Recht lustig heut' sein.“

Die anderen wiederholten zweistimmig die letzten vier Zeilen, und dann fuhr Mila fort:

„Dich drehet behende
Mein flüchtiger Tritt;
Gedanken ohn' Ende,
Sie drehen sich mit.

Und lustige Liedchen
Verkürzen die Zeit –
So spinn ich mein Fädchen,
Mein linnenes Kleid.“

Auch hier wurden die letzten vier Zeilen wiederholt. Die nächste Strophe lautete:

„Ohn' Unterlaß gleiten
Die Fädchen geschwind;
So eilen die Zeiten;
Die Sanduhr verrinnt.

Das Leben entschwindet
Im Fluge dahin,
Und nur für den Fleißigen
Bringt es Gewinn.“

Gerade als die Wiederholung hier eintreten sollte, schrie eine der Mägde laut auf und deutete vorwärts nach dem Brunnen, der von drei Seiten von einer schattigen Buchenhecke umgeben war.

„Was gibt es denn da zu erschrecken?“ sagte Mila. „Am hellen Tag! Es wird ein Vogel gewesen sein. Laß uns das Lied zu Ende singen.“

Sie begann darauf die letzte Strophe:

„Und zög' auch manch' Mädchen
Ein höhnend Gesicht
Und spräche: Ans Rädchen
Da setz' ich mich nicht.

Mag immer sie spotten,
Doch treib' ich es so,
Ich spinne und singe,
Bin lustig und froh.“

Der Refrain fiel jetzt wieder ein. Da, als das letzte Wort gesungen war, erschallte ein beifälliges Klatschen hinter der Hecke hervor.

„Hört ihr's?“ sagte die Magd. „Ich hatte doch recht. Es ist jemand dort.“

„So mag er herkommen“, meinte Mila.

Ihr Blick war gespannt auf die Hecke gerichtet. Wer mochte die Person sein, die da applaudiert hatte? Der Vater war fortgeritten, die Mutter befand sich im Haus, und die Knechte hüteten die Herden. Nur ein Fremder konnte sich so heimlich herbeigeschlichen haben.

Bei diesem Gedanken fühlte sie eine Art von Unmut darüber, daß man es gewagt hatte, sie zu belauschen. Sie stand auf und machte Miene, nach dem Brunnen zu gehen. Da aber trat der Störenfried hinter den Buchen hervor. Als sie ihn erblickte, schwand der Ausdruck des Unmutes aus ihrem Gesicht. Es war ein Bild schöner, voller Manneskraft, das ihr gegenüberstand. Dem konnte man nicht zürnen.

Der unberufene Lauscher war ein junger Mann im Alter von ungefähr zweiundzwanzig Jahren. Er trug einen linnenen Rock, ebensolche Weste und dergleichen Hosen, die in den hohen Schäften der Stiefel steckten. Seine Mütze war alt und sehr abgegriffen. Dem Anzug nach zu urteilen, hätte er also ein Arbeiter sein können.

Aber diese hohe, ebenmäßige, stolze Gestalt, dieses Gesicht mit den großen, scharfen, dunklen Augen! Wer in dieses Gesicht und in diese Augen blickte, der mußte ahnen, daß er keinen gewöhnlichen Menschen vor sich habe.

Man sah keinen Stock und auch keinerlei Waffen an ihm. Aber auf dem Rücken hing eine Leinwandhülle, und ihre Form ließ erraten, daß sie ein Instrument umschließe.

„Ein Sänger!“ rief eine der Mägde. „Ein Sänger, ein Sänger!“ fielen die anderen ein, vor Freude in die Hände klatschend.

Gleich den alten Barden und den späteren Troubadours ziehen fahrende Sänger durch die bewohnten Gegenden Sibiriens. Sie sind hochwillkommen, teils wegen ihrer Lieder, denn der Russe singt außerordentlich gern, teils auch wegen der Neuigkeiten, die sie von Ort zu Ort tragen.

Sind sie es doch fast allein, durch die einsame Gehöfte mit der übrigen Welt in Verbindung stehen, und so ist es sehr erklärlich, daß ihre Ankunft überall Freude hervorruft.

„Verzeiht, daß ich euch störte!“ bat er. „Ich kam dort aus dem Wald. Die Hecke war schuld, daß ihr mich nicht kommen saht, und weil euer Lied mir so sehr gefiel, wollte ich euch nicht unterbrechen.