„Oder er holt sich noch irgend etwas aus der Bibliothek.“ Sie ist froh, noch eine Erklärung seines Ausbleibens gefunden zu haben.
Aber Frau Malcorn versteht es anders: „Diese Bücher –“ klagt sie – „diese vielen grossen Bücher!“
Marie lacht. „Ja, das ist seine alte Leidenschaft.“
„Und er liest so lange. Jede Nacht bis eins oder zwei.“
„Er lebt zwei Leben. Eines nach vorn und eines tief zurück in die Vergangenheit. Das macht ihn so, – so breit ...“
Frau Malcorn, die noch immer nicht in den Kreis der Lampe kommt, steht irgendwo im Dunkel, unter den Dingen. Sie scheint die letzte Erklärung nicht gehört zu haben. „Ich schleiche oft bis zur Thür und schaue durch die Spalte: immer noch Licht. Ich wage nicht zu rufen. Aber ich horche immer ...“
„Ja, ja, er liest gern laut,“ sagt Marie oberflächlich, zieht die Fenster-Vorhänge zu und vollendet damit den Abend. Und der Kreis der Lampe wird ruhig und rund.
Aber da flüstert Frau Malcorn, als ob das ein Geheimnis wäre: „Er hustet.“
„Na –“ macht die Holzer, „– das Wetter ist auch danach.“
„Nein, nicht so. Schon lange und so, so fürchterlich tief ...“
Da ist auch Marie erschrocken, ohne Fassung. Nur einen Augenblick freilich. Dann schüttelt sie's ab. „Sie sind aber auch, Frau Malcorn! Immer gleich alles von der schwärzesten Seite sehen.“ Sie sieht ein, dass man schnell etwas Scherzhaftes sagen muss, um jeden Preis. „Wenn Sie nur mal reden müssten, so vor fünf-, sechshundert Menschen im heissen, dunstigen Saal und zwei, drei Stunden lang ...“
Frau Malcorn wagt sich ins Licht. „Meinen Sie wirklich, Marie?“
„Aber natürlich, Frau Malcorn. Denken Sie nur. Aber damit Sie ganz beruhigt sein können, will ich ihn überreden, mal zum Arzt zu gehen.“
„Wie gut –“
„Ja, zu Ihrer Beruhigung. Es wird kein leichtes Stück sein bei ihm. Weiss Gott! Er gönnt sich so ungern für sich selber Zeit. Aber ich glaube, ich kann schon etwas wagen bei ihm.“
„Er thut alles, was Sie wollen, Marie ...“
„O – wir sind gute Kameraden. Da gleicht sich das aus. Im übrigen, er ist ja so weit über mir in allem.“ Pause. „Ich bin oft ganz bange deshalb.“
„Bange?“
„Er fühlt alles so! Oft wenn wir unter Menschen sind: Ein Wort, ein Blick, eine Bewegung irgendwo. Ich merke es kaum, aber ich sehe an ihm sofort: es ist etwas geschehen. Dieses Wort, dieser Blick, diese Gebärde, war ein Ereignis, etwas Entscheidendes ...“
„Wie meinen Sie das, Marie?“
„Nun, das ist ja selbstverständlich. Er ist reif. Er hat jahrhundertelange Entwicklungen hinter sich. Unter ihm sind Feldherren, Bischöfe, – Könige vielleicht sogar. Immer einer auf den Schultern des andern.
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