Plötzlich aber wußte er es. Er lief zum Fenster ins Nebenzimmer, hielt den Vorhang hoch, steckte den Kopf hinaus und schrie hinunter, so laut er konnte: »Mörder! Mörder!« Er sah noch, wie die Leute zusammenliefen, sah, wie man heraufdeutete, dann entfernte er sich vom Fenster, setzte sich ruhig auf den Sessel und wartete. Ihm war, als wäre das sehr gut, was er getan. Er dachte an seine Frau, die schon lang im Sarge lag und der die Würmer in die Augenhöhlen kröchen, und zum ersten Mal seit ihrem Tod fühlte er irgend etwas wie Frieden in seiner Seele.

Jetzt wurde heftig geklingelt, Gustav stand rasch auf und öffnete. – – –[336]

 

Um eine Stunde

Er hielt ihre Hand in der seinen und betrachtete ihr blasses Gesicht, aus dem jede Spur des Lebens geschwunden schien. Da öffnete sie noch einmal die Augen. Er wußte, wenn sich diesmal die Lider senkten, so war es für immer. Ihre Brust hob sich schwer, und er wußte: dies ist der letzte Atemzug. Da ergriff ihn eine ungeheure Angst um sie, und er betete, ohne daß seine Lippen sich bewegten: »Laß sie mir, Unerbittlicher, laß sie mir! Laß sie mir noch einen Tag, noch eine Stunde, aber nimm sie mir nicht jetzt, nicht gleich!«

Da sah er mit einem Male den Engel des Todes im Fenster stehen, der hatte sein Flehen gehört und sprach zu ihm: »Was willst du von mir? Drei Jahre war sie dein Weib. Was kann diese letzte Stunde dir, dem Lebenden, und ihr, der Sterbenden, geben?«

»Alles!« rief der Jüngling aus. »Denn diese drei Jahre waren nichts. Niemals hab' ich ihr gesagt, wie ich sie liebe, und ich hab' ihr's nicht sagen können, weil ich selbst es nicht gewußt habe. Und nun soll sie dahingehen, ohne es jemals gehört zu haben. Darum fleh' ich zu dir: Eine Stunde gib mir noch, daß ich's ihr sagen kann, und ich will dir nicht fluchen, so grausam du bist!«

Da antwortete der Engel des Todes: »Ich selbst kann dir diese Stunde nicht schenken. Denn eine so große Fülle von Leben über die Erde verstreut ist, so abgemessen ist sie, und im Unendlichen gibt es kein Zuviel und kein Zuwenig. Was du von mir verlangst, kann ich nur von einem anderen Menschen für dich erbitten, dem eben noch eine Stunde des Lebens und nicht mehr beschieden ist.«

Da leuchteten die Augen des Jünglings in neuer Hoffnung, und er sprach: »Wenn das in deiner Macht steht, so mach dich schnell auf den Weg, die Zeit geht hin.«

Der Engel schüttelte das Haupt. »Fürchte nichts. Solange ich mit dir rede, rauscht die Zeit an dir vorbei, ohne Macht über dich zu haben. Komm, ich will dich unter meine Flügel nehmen, denn[313] du mußt bei mir sein, wenn meinen Bitten Kraft innewohnen soll; aber du wirst unsichtbar sein.«

Kaum hatte der Engel des Todes diese Worte ausgesprochen, so fühlte sich der Jüngling vom Boden emporgehoben und durch die dämmernde Morgenluft davongetragen. Und noch im selben Augenblick fand er sich in einem Wald und wandelte an der Seite des Engels durch eine hohe, dunkle Allee. Da begegnete ihnen ein Mann, noch nicht alt und nicht mehr jung, der in tiefes Sinnen versunken war und erst aufsah, als ihm der Engel mit seinen schwarzen Flügeln den Weg versperrte. Der Mann erschrak zuerst, faßte sich aber bald und fragte mit viel Würde: »Ich glaube, dich zu kennen, und sehe mit Befriedigung, daß du dem Bilde sehr ähnlich bist, das ich mir von dir gemacht habe. Aber warum suchst du mich schon so früh auf?«

»Ich weiß«, antwortete der Engel, »daß du dein ganzes Leben damit verbracht hast, über mich nachzudenken, dich auf mich vorzubereiten und mich mit Anstand zu empfangen. Ich weiß auch, daß du das Nichtsein für den einzig wünschenswerten Zustand hältst, welcher den Menschen gegönnt ist. Freue dich! In einer Stunde wirst du dein Ziel erreicht haben.«

Der Mann atmete auf.

»Aber es kostet dich nur ein Wort«, fuhr der Engel fort, »um sogleich in das, was du das Reich des Nichtseins nennst, eingehen zu können. Schenke mir diese Stunde, die dir nichts anderes sein kann als ein unwillkommener Aufschub, für ein anderes menschliches Wesen, dem sie ein ungeheures Glück bedeutet.«

»Das werde ich keineswegs tun«, erwiderte der Philosoph mit viel Freundlichkeit. »Gerade in dieser letzten Stunde meines Lebens kann es mir eher gelingen als in jeder anderen, das Rätsel der Welt endgültig zu lösen – eine Möglichkeit, auf die ich keineswegs verzichten möchte; und überdies finde ich, daß die Ewigkeit selbst für den erfreulichsten Zustand, der den Menschen gegönnt ist, eben lang genug sein mag. Ich wünsche also, daß du mich ruhig meinen Spaziergang fortsetzen läßt und gütigst nicht früher erscheinst, als das Schicksal oder Gott oder der Weltgeist – darüber werde ich ja bald Näheres erfahren – dir aufgetragen hat.« Damit wendete er sich ab, und der Todesengel flog mit dem Jüngling wieder von dannen.

Sogleich befanden sie sich in einem dumpfen, schwach erhellten Zimmer, am Fußende eines Bettes, darin ein elender und verfallener Mensch lag, der sich ächzend und stöhnend hin und her[314] wälzte. Er hatte wohl auch das Rauschen der Flügel gehört, denn plötzlich schlug er die Augen auf und starrte den Engel mit Entsetzen an.

»Da bin ich endlich«, sprach dieser mit milder Stimme. »Da bin ich, den du in so vielen schmerzensreichen Tagen und Nächten herbeigerufen hast.