In ihrem Lächeln war nichts Gemeines gelegen, kaum daß es sehr ermutigend gewesen wäre. Sie war etwa zehn Schritte vor ihm; er hielt sich immer in der gleichen Entfernung. Immer wenn sie an einer Laterne vorüberging, konnte er die Umrisse ihrer Gestalt am deutlichsten wahrnehmen, immer wieder von neuem glaubte er den Gang seiner verstorbenen Frau vor sich hinschweben zu sehen, und wie mit einer Lust am Wahnsinn versuchte er sich zu überreden, daß sie es wirklich wäre. Er sagte sich: Jetzt, in dieser Entfernung, wenn ich diese Gestalt ... diesen Gang ... diese Haartracht sehe – ist sie es. Wenn es Wunder gäbe und ich bekäme irgend etwas von ihr wieder, nur ihre Gestalt, nur ihren Gang – wäre ich da nicht glücklich? ... Sie schien nicht zu ahnen, daß ihr irgendwer folgte, schritt unbekümmert weiter. Der Weg führte sie am Stadtpark vorbei, sie hielt sich ganz nah am Gitter und glitt mit ihren Fingern über die Stäbe hin. Gustav zuckte[327] zusammen. Er erinnerte sich, daß es eine Gewohnheit seiner Frau gewesen war, im Vorübergehen mit den Fingern über Wände, Mauern, Gitter zu gleiten. Es war ihm, als täte das Weib, das zehn Schritte vor ihm ging, mit Absicht dasselbe, und er wußte doch zugleich, daß diese Empfindung vollkommen sinnlos war. Und doch schien ihm von diesem Augenblicke an in jeder Bewegung dieses Weibes etwas Gewolltes, etwas in Beziehung auf ihn Gewolltes zu liegen – ja, ihm war, als dächte diese Person, die da vor ihm einherging: Alles das tu' ich, wie es seine Frau getan. Ein Unwille wachte in seiner Seele auf; er hatte einen Augenblick Lust, umzuwenden und seines Wegs zu gehen, als könnte er diesen Spott sich nicht gefallen lassen. Aber es war, als zöge sie ihn nach sich, und er folgte ihr immer weiter. Sie bog in die Wollzeile ein, dann in eine Seitengasse, deren Namen er nicht wußte; hier verschwand sie in einem der ersten Häuser, ohne sich noch einmal umgewandt zu haben. Er blieb eine Weile vor dem Tor stehen; vielleicht käme sie wieder herunter. Er betrachtete die Fenster. Bald wurde im dritten Stock eines geöffnet. Es war die Frau, der er gefolgt war; er konnte ihr Gesicht in der Dunkelheit nicht sehen, auch nicht die Richtung ihres Blicks, doch die Bewegung ihres Kopfes verriet ihm, daß sie nach oben schaute; dann stützte sie die Ellbogen auf das Fensterbrett und wandte den Kopf nach unten. Er eilte davon, er wollte nicht von ihr bemerkt sein. Aber wie er sich, durch die Straßen eilend, ihrer erinnerte, war es nicht irgendeine Fremde, die er heut zum ersten Male gesehen – nein, es war seine Frau, seine tote Frau, die in jener Straße, die Ellbogen auf das Fensterbrett gestützt, herunterschaute. Er vermochte es gar nicht, sich dort eine andere zu denken, und wieder war ihm, als wüßte diese Fremde selbst davon, was in ihm vorginge. Er verwandte große Mühe darauf, das alles aus seinen Sinnen zu jagen, aber es war ganz vergeblich. Endlich setzte er sich in ein Wirtshaus, aß und trank. Die Schwüle war außerordentlich. Nachdem Gustav mehr getrunken hatte, verloren jene Vorstellungen ihr Quälendes, ja sie traten beinahe tröstend hervor. Es war plötzlich ein Wesen da, ein ganz bestimmtes Wesen, das für ihn irgend etwas bedeutete – es war eine Frau, es war beinah seine Frau, und sie dachte an ihn, oder ihm war, als dächte sie an ihn.
Er träumte diese Nacht von der Toten. Er sah sich mit ihr in der Waldgegend, wo sie den letzten Sommer verbracht hatten; sie lagen zusammen auf einer sehr weiten, lichtgrünen Wiese,[328] nur ihre Wangen lehnten und glühten aneinander; aber diese leichte Berührung erfüllte ihn mit einem so hohen Glück, wie er es nie in der leidenschaftlichsten Umarmung empfunden. Plötzlich war sie fort, und er sah sie am Ende der Wiese längs des Waldrandes hinlaufen, die Arme in die Luft gestreckt, so wie er in einer illustrierten Zeitung tags vorher ein Ballettmädchen gesehen, das sich vor den Flammen retten wollte.
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