Er dachte nicht daran, eine Bekanntschaft anzuknüpfen oder eines dieser Wesen in die Arme zu schließen; er freute sich nur ihres Daseins und ihrer Blicke.

Noch mehrere Tage vergingen in dieser beinah traumhaften Weise, daß er vormittags im Büro von Wäldern und Wiesen und hübschen Frauen träumte, nachmittags halb schlummernd auf seinem Bett lag, abends spazierenging und ziemlich früh in einem Wirtshaus, meist im Freien, an einem Tisch hinter dem Staket zu Abend aß.

Als er wieder einmal von seinem Nachmittagsschlummer erwachte und mitten im Zimmer stand, erschien mit einem Mal das ganze Leben dieser letzten Tage unverständlich. Am seltsamsten von allem erschien ihm, daß er nun ganze Tage seiner Frau nicht mehr gedacht, gewiß nicht mit wahrem Schmerz sich ihrer erinnert, und er bekam plötzlich eine große Sehnsucht zu weinen, als könnte er damit sein Unrecht wieder gutmachen.[325] Aber er hatte keine Tränen. Dann auf der Straße, als der Zug der Frauen an ihm vorüberschwebte, flossen ihm langsam, als schämten sie sich ihrer Spärlichkeit und ihrer Verspätung, die Tränen über die Wangen. Gleich nachher war es ihm, als hätte er eine Schuld getilgt; er ging rascher und spürte etwas von Fröhlichkeit, da er so dahinschritt. Mit einer plötzlichen Klarheit wußte er heute, daß er wieder glücklich sein wollte und daß er es sein durfte. Ja, es überfloß ihn mit einer leisen Wonne, daß ihm so viel zur Verfügung stehe; er dachte an die Hunderte von schönen Weibern, die sich ihm nicht verweigern würden, wenn er wollte; jedes Lächeln, das ihm zu gelten schien, jede zufällige Berührung trieb ihm fliegende Schauer durch den ganzen Leib. Er freute sich auf irgend etwas, das ihm in der nächsten Zeit bevorstand, das er haben konnte, wenn er wollte – in einer Woche, oder morgen, oder heut, in einer Viertelstunde, wenn es ihm beliebte, und das Ungewisse innerhalb dieser Gewißheit war ein Reiz mehr. Er setzte sich auf eine Bank in der Nähe des Volksgartens. Aus dem Garten tönte Musik, und in ihrem Klang schienen die Leute, die an Gustav vorübergingen, sich zu wiegen. Er nahm den Hut ab, legte ihn auf die Knie, und ihm war, als wenn er damit einen schweren Eisenring von seiner Stirn entfernt hätte. Jetzt schien ihm, als dürfte er darangehen, Pläne zu fassen. Er hatte die Empfindung, als wäre heut nachmittag um sechs Uhr seine Trauerzeit zu Ende gewesen, und er hatte nun auch andere Pflichten, andere Rechte als ein paar Stunden vorher. Dabei war er ganz ruhig, er hatte kaum einen Wunsch, nur das Gefühl der Beruhigung, daß sein Wunsch kein Verbrechen mehr und die Erfüllung leicht sei.

Er saß schon lange Zeit auf der Bank, als er ein junges Paar neben sich erblickte, das eben erst gekommen sein mußte. Die beiden sprachen leise, aber er konnte doch mancherlei verstehen; es schien sich um ein Wiedersehen für den nächsten Tag zu handeln.

Jetzt besann er sich, daß es auch notwendig sein werde, an das Wesen, dem er sich nähern wollte, Worte zu richten, und das schien ihm in diesem Augenblick so schwer, daß ihm eine Röte der Angst ins Gesicht stieg. Er überlegte, wie er mit irgendeiner Frau ein Gespräch beginnen sollte, und dachte sich aus, was er zu jeder einzelnen sagen würde. Es kam ein junges Mädchen vorbei mit einem kleinen Jungen. Da würde er sagen: »Guten Abend, Fräulein. Das ist aber ein reizender Bub! Gewiß der Herr Bruder?«[326] Dabei mußte er selbst lachen, denn das war zweifellos ein guter Witz, einen kleinen Buben den »Herrn Bruder« zu nennen, und das junge Mädchen hätte sicher auch gelacht. Da war sie ja noch – zehn Schritt weit; aber er wagte es doch nicht. Jetzt kam eine ziemlich dicke Frau, die Noten in der Hand hielt. Die hätte er fragen können, ob er die Noten tragen dürfte. Dann kamen zwei ganz jungen Dinger, die eine hatte eine Schachtel in der Hand, die andere mit einem Sonnenschirm redete sehr geschwind und wichtig. Der hätte er sagen können: »Erzählen Sie mir doch auch etwas, Fräulein!« Aber das war doch zu frech. Nun kam eine junge Person, die sehr langsam ging und den Kopf hin und her wiegte, ganz für sich, als interessiere sie die übrige Welt nicht im geringsten. Wie sie an Gustav vorüberging, schaute sie ihn an und lächelte, als käme er ihr bekannt vor. Er stand auf, aber nicht, weil sie gelächelt – sondern weil sie in der Gestalt und insbesondere jetzt, wie er sie von rückwärts sah, eine so außerordentliche Ähnlichkeit mit seiner verstorbenen Frau hatte, daß er beinahe erschrocken war. Ja, selbst die Frisur war die gleiche – auch solch einen Hut mußte seine Frau irgendeinmal getragen haben. Und je weiter sie sich von ihm entfernte, um so eher hätte er sich einbilden können, daß es die Gestorbene war. Er fürchtete sich davor, daß sie sich wieder umwenden könnte, denn die Züge selbst hatten keine Spur von Ähnlichkeit; nur der Gang, die Gestalt, die Haartracht, der Hut.

Er folgte ihr nach. Was konnte sie sein? Er hatte nicht genug Erfahrung, um das genau abzuschätzen.