Er flüsterte den Namen der Toten, flüsterte ihn noch einmal lauter, er sprach ihn aus ... »Therese« ...
Sie blieb stehen. Er war neben ihr, ganz erschrocken. Sie schaute ihm ins Gesicht, schüttelte den Kopf, erstaunt, und schickte sich an weiterzugehen. Mit halberstickter Stimme sagte er: »Ich bitte Sie ... ich bitte Sie ...« Sie antwortete ganz sanft: »Was wollen Sie denn?« Es war eine ganz fremde Stimme. Wenn er sich später dieses Moments erinnerte, sah er sich selbst immer um viele Jahre jünger, bartlos, fast wie ein Kind, denn sie schaute ihn an, wie man Kinder ansieht, die einem gefallen.
Sie sprach weiter: »Woher kennen Sie mich denn? Woher wissen Sie denn, wie ich heiße?«[330]
Es kam ihm gar nicht sonderbar vor, daß sie wirklich so hieß wie die Verstorbene. Er sagte: »Ich habe Sie schon gestern ... gesehen.«
»Ach so.« Sie glaubte offenbar, daß er sich im Hause nach ihrem Namen erkundigt. Er fühlte seinen Mut wachsen.
»Ich hab's aber gespürt«, sagte sie, »gestern abend, daß wer hinter mir geht. Ich dreh' mich ja nie auf der Straßen um, aber man spürt's gleich. Is' 's nicht wahr?«
Sie gingen nebeneinander her, und Gustav fühlte eine plötzliche Aufgeräumtheit, als hätte er ein paar Glas Wein getrunken.
»Aber daß mich einer anred't, das is' mir schon lang net passiert. Freilich, es is' auch eine Seltenheit, daß ich so allein auf der Straße geh', am Abend. Bei Tag freilich, da is' 's was anderes – no, nicht wahr? – bei Tag hat man doch immer was in der Stadt zu tun?«
Er hörte ihr zu. Ein Gefühl des Behagens kam über ihn. Der Klang dieser Frauenstimme tat ihm wohl. Als sie jetzt schwieg und ihn von der Seite lächelnd ansah, als erwartete sie ein Wort von ihm, sagte er: »Jetzt is' 's aber bei Tag so heiß; wenn man nicht muß, sollte man immer erst abends ins Freie. So kühl wie im Zimmer is' es bei Tag doch nirgends.« Er freute sich, daß er so leicht und gewandt reden konnte. Er hatte es gar nicht gehofft.
»Da hab'n Sie schon recht. Und besonders dort, wo ich wohne ... na, Sie wissen ja ...«, sie lächelte dabei freundlich ..., »da kommt nie eine Sonne hin. Wirklich, ich muß schon sag'n: Wenn ich so zu Mittag auf'n Ring hinausgeh', das is' grad, wie wenn man in einen Glutofen käm'.«
Dies gab ihm Anlaß, von der Hitze zu sprechen, die in seinem Büro herrschte, und von seinen Kollegen, die manchmal über der Arbeit einschliefen. Sie lachte darüber, das ermutigte ihn, und mit einer wahren Freude an seinen eigenen Worten und an ihrem Zuhören kam er immer mehr ins Erzählen: wie er seine Tage verbringe, daß er seit einiger Zeit verwitwet sei ... er sprach das Wort aus, als sei es etwas ganz Gewöhnliches, und doch wußte er, daß er es bis heute, auf sich bezüglich, noch nie ausgesprochen. Es tat ihm wohl, daß seine Begleiterin ihn darauf mit einem bedauernden Blicke ansah.
Dann berichtete sie von sich. Er erfuhr, daß sie die Geliebte eines sehr jungen Mannes sei, der jetzt eben mit seinen Eltern für einige Wochen auf dem Lande lebe und erst in drei Wochen zurückkommen sollte.[331]
»Sonst is' er immer um sieben Uhr abends bei mir, und das bin ich schon so gewohnt, daß ich gar nicht weiß, was ich mit der Zeit anfangen soll, wenn er nicht da is'. Sonst is' natürlich er mit mir spazierengegangen, jetzt muß ich allein herumlaufen; er weiß gar nix davon ... oh, er dürft' gar nix davon wissen, er is' ja so eifersüchtig! Aber ich bitt' Sie, kann man denn verlangen, daß ich an den schönen Abenden im Zimmer sitz' – no, nicht wahr? Da red' ich alleweil mit Ihnen ... das sollt' ich doch schon gewiß nicht. Aber schaun S', wenn man so acht Tag' lang mit niemandem ein vernünftiges Wort gesprochen hat, so is' es eine rechte Erholung.«
Sie waren in der Nähe ihrer Wohnung.
»Wollen Sie schon nach Haus gehen, Fräulein?« sagte er.
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