Juni stattfinden sollte. Das hätte ich nie begriffen, wäre ich nicht einmal einem französischen Generalstabsoffizier begegnet, der auf der Rückreise von Westafrika war und mir viel erzählte. Unter anderem sagte er, daß trotz allem Unsinn, der im Parlament verzapft wurde, eine wirkliche Arbeitsgemeinschaft bestand und daß die Generalstäbe beider Länder immer wieder einmal zusammenkamen und Pläne für gemeinsame Aktion im Kriegsfall machten. Nun würde also laut Scudder im Juni ein sehr hohes Tier von Paris herüberkommen und nichts Geringeres in Empfang nehmen als den Standortsplan der britischen Heimatflotte im Fall der Mobilmachung. Jedenfalls schloß ich aus den Notizen, daß es sich um etwas Derartiges handelte, bestimmt um etwas außergewöhnlich Wichtiges.

Aber am 15. Juni würden auch noch andere Leute in London sein - was für welche, das mußte ich erraten. Scudder begnügte sich damit, sie mit dem Sammelnamen >Der Schwarze Stein< zu bezeichnen. Sie waren nicht unsere Alliierten, sondern unsere Todfeinde; und die Information, die für Frankreich bestimmt war, sollte in ihre Tasche praktiziert werden. Auf Grund dieser Information würden dann - wie schon gesagt: eine oder zwei Wochen später - mächtige Kanonen und schnelle Torpedos eingesetzt werden.

Das war die Geschichte, die ich im Hinterzimmer eines ländlichen Gasthauses mit dem Blick auf die Kohlköpfe im Garten entziffert hatte. Das war die Geschichte, die in meinem Gehirn summte, während ich den großen Tourenwagen mit Höchstgeschwindigkeit von einem engen Tal ins andere jagte.

Mein erster Gedanke war gewesen, dem Ministerpräsidenten einen Brief zu schreiben, aber dann sagte ich mir, daß das keinen Sinn haben würde. Wer würde mir schon glauben? Ich mußte etwas vorweisen können, einen Beweis, und der Himmel allein wußte, was das wohl sein könnte. Vor allem mußte ich meine Bewegungsfreiheit behalten, um handeln zu können, wenn die Situation reif dafür war; und das würde keine Kleinigkeit sein, da die Polizei der britischen Inseln mit großem Geschrei nach mir fahndete und die Spione des Schwarzen Steins geräuschlos und schnell meine Spur verfolgten.

Ich hatte keinen sehr deutlichen Plan für meine Fahrt, aber ich steuerte ostwärts, mich an der Sonne orientierend, denn ich wußte von der Karte her, daß ich nordwärts in eine Gegend von Kohlenbergwerken und Industriestädten geraten würde. Bald war ich vom Hochmoor herunter und durchquerte eine breite Flußniederung. Meilenweit fuhr ich an einer Parkmauer entlang, und durch eine Lichtung in den Bäumen sah ich ein großes Schloß liegen. Ich raste durch kleine alte Dörfer mit Strohdächern, über friedliche Bäche im Unterland und an Gärten vorbei, in denen Weißdorn und Goldregen in voller, strahlender Blüte standen. Das Land lag in so tiefem Frieden, daß ich kaum glauben konnte, hinter mir seien Leute her, die mir nach dem Leben trachteten; und noch unglaubhafter erschien mir, daß in einem Monat, wenn ich nicht ganz unwahrscheinliches Glück hatte, diese runden Bauerngesichter hager und großäugig dreinsehen, daß auf den englischen Feldern Tote liegen würden.

Gegen Mittag fuhr ich in ein sich lang hinziehendes Dorf hinein. Eigentlich wollte ich halten und etwas essen. Auf halbem Wege lag das Postamt, und auf den Eingangsstufen standen die Posthalterin und ein Polizist, die eifrig ein Telegramm studierten. Als sie mich sahen, fuhren sie hoch, und der Polizist trat mit erhobener Hand vor und rief, ich solle anhalten.

Fast wäre ich darauf hereingefallen. Dann kam es mir blitzartig, das Telegramm habe etwas mit mir zu tun. Meine Freunde im Gasthof waren sich wohl einig geworden in dem Wunsch, mich wiederzusehen. Es war kein Problem für sie, die Beschreibung meiner Person und des Wagens in dreißig Dörfer zu telegraphieren, die ich vielleicht passieren würde.

Gerade noch rechtzeitig nahm ich den Fuß von der Bremse. Der Polizist klammerte sich an die Kühlerhaube und fiel erst herunter, als er meine Linke ins Auge kriegte.

Ich sah ein, daß die Hauptstraßen nicht das richtige für mich waren, und bog in Seitenwege ein. Das war ohne Karte ziemlich riskant, denn ich konnte leicht auf einen Weg geraten, der zu einem Bauernhof führte und in einem Ententeich oder vor den Ställen endete, und diese Art von Zeitverlust konnte ich mir nicht leisten. Langsam wurde mir klar, was für eine Eselei es gewesen war, den Wagen zu stehlen. Dieses große grüne Ungeheuer war das sicherste Erkennungszeichen in ganz Schottland. Wenn ich ihn aber stehen ließ und mich zu Fuß aufmachte, würde er in ein bis zwei Stunden gefunden werden, und dann hatte ich keinen Vorsprung mehr in diesem Rennen.

Ich mußte sofort auf die einsamsten Straßen kommen, und die fand ich, als ich an einem Nebenfluß des großen Flusses entlangfuhr und in ein Tal kam, dessen steile Wände mich einschlössen und an dessen Ende enge Serpentinen über eine Art Paß führten. Hier begegnete ich niemandem, aber auf dieser Straße kam ich zu weit nach Norden, darum bog ich nach Osten auf einen schlechten Landweg ab und kam schließlich an eine doppelspurige Eisenbahnhauptlinie. Tief unter mir sah ich wieder ein breites Tal, und ich dachte, wenn ich es durchquerte, fände ich vielleicht einen abgelegenen Gasthof, wo ich die Nacht über bleiben könnte. Es wurde schon Abend, und ich hatte einen wütenden Hunger, denn seit dem Frühstück hatte ich nur zwei Brötchen gegessen, die ich an einem Bäckerkarren gekauft hatte.

In diesem Augenblick hörte ich vom Himmel her ein Dröhnen, und tatsächlich, da war das verfluchte Flugzeug, etwa zwölf Meilen südlich flog es sehr niedrig und näherte sich mir sehr schnell.