»Sprechen Sie die Worte der Liebe«, und ich that es ebenfalls. »Sprechen Sie Worte des Mitleids«, und auch das that ich. »Ich erinnere mich nicht, in welchen Ausdrücken sie abgefaßt waren, doch ich glaube, sie sind sehr ergreifend gewesen, denn ich entlockte einigen Nonnen Schluchzen und Thränen, die beiden jungen Geistlichen weinten, und der Archidiakon fragte mich erstaunt, woher ich die Gebete hätte, die ich eben ausgesprochen.«

»Aus dem tiefsten Grunde meines Herzens,« erwiderte ich ihm; das sind meine Gedanken und Gefühle; ich rufe Gott zum Zeugen an, der uns überall hört und auf diesem Altar gegenwärtig ist. Wenn ich einige Fehler begangen habe, so kennt Gott sie allein, und nur er hat ein Recht, Rechenschaft von mir zu fordern und mich zu bestrafen.

Bei diesen Worten warf ich einen schrecklichen Blick auf die Oberin.

Der Rest dieser Ceremonie ging zu Ende, und die Nonnen zogen sich zurück bis auf die Oberin und die jungen Geistlichen. Der Archidiakon setzte sich, zog die Denkschrift, die man ihm gegen mich eingereicht, hervor las sie mit lauter Stimme vor, und fragte mich dann:

»Warum beichten Sie nicht?«

»Weil man mich daran verhindert!«

»Warum gehen Sie nicht zum Abendmahl?«

»Weil man mich daran verhindert!«

»Weshalb wohnen Sie weder der Messe, noch den Gottesdiensten bei?«[76]

»Weil man mich daran verhindert!«

Die Oberin wollte das Wort ergreifen, doch er sagte zu ihr in seinem schroffen Tone:

»Schweigen Sie, Madame ... Warum verlassen Sie nachts Ihre Zelle?«

»Weil man mich des Wassers, der Waschschüssel und anderer notwendigen Gegenstände beraubt hat.«

»Warum hört man nachts in Ihrer Zelle Geräusch?«

»Weil man sich vorgenommen hat, mir die Ruhe zu rauben.«

Die Oberin wollte wieder sprechen, doch er sagte ihr zum zweiten Male:

»Madame, ich habe Ihnen bereits einmal gesagt, Sie möchten schweigen; Sie werden antworten, wenn ich Sie frage ...«

»Wie kommt es, daß man Ihnen eine Nonne aus den Händen gerissen hat, die man in einem Korridor an der Erde liegend fand?«

»Das ist infolge des Entsetzens geschehen, das man ihr vor mir eingeflößt hat.«

»Ist sie Ihre Freundin?«

»Nein, mein Herr.«

»Haben Sie nie ihre Zelle betreten?«

»Niemals!«

»Weshalb hat man Sie gefesselt?«

»Das weiß ich nicht.«

»Weshalb schließt Ihre Zelle nicht?«

»Weil ich das Schloß erbrochen habe.«

»Weshalb haben Sie das gethan?«

»Um mir die Thür zu öffnen und am Himmelfahrtstage dem Gottesdienste beiwohnen zu können.«

»Sie haben sich also an jenem Tage in der Kirche gezeigt?«

»Ja, mein Herr.«[77]

»Warum haben Sie weder Rosenkranz, noch Kruzifix?«

»Weil man sie mir genommen hat.«

»Wo ist Ihr Gebetbuch?«

»Dies hat man mir ebenfalls genommen.«

»Wie beten Sie denn?«

»Ich spreche mein Gebet nach meinem Herzen und meinem Geiste, obwohl man mir zu beten verboten hat.«

»Wer hat Ihnen das verboten?«

»Madame!«

Die Oberin wollte wieder sprechen, doch er sagte zu ihr:

»Madame, ist es wahr oder unwahr, daß Sie ihr verboten haben, zu beten? Sagen Sie ja oder nein!«

»Ich glaubte, ich hätte recht, anzunehmen ...«

»Darum handelt es sich nicht; haben Sie ihr verboten, zu beten? Ja oder nein!«

»Ich habe es ihr verboten, aber ...«

Sie wollte noch weiter sprechen, doch der Archidiakon fuhr fort:

»Schwester Susanne, warum gehen Sie barfuß?«

»Weil man mir weder Schuhe noch Strümpfe liefert!«

»Warum sind Ihre Wäsche und Kleider in diesem Zustande der Unsauberkeit?«

»Weil man mir seit mehr als drei Monaten Wäsche verweigert und ich gezwungen bin, in meinen Kleidern zu schlafen ... weil ich weder Vorhänge, noch Matrazen, Decken, noch Tücher, noch Notwäsche besitze.«

»Warum haben Sie nichts dergleichen?«

»Weil man mir alles genommen hat.«

»Bekommen Sie hinreichende Nahrung?«

»Ich bitte darum, daß es geschehe.«

»Sie werden also nicht genügend ernährt?«

Ich schwieg, und er fuhr fort:

»Es ist unglaublich, daß man so streng mit Ihnen[78] verfahren ist, ohne daß Sie irgend einen Fehltritt begangen haben.«

»Mein Fehltritt besteht darin, daß ich mich nicht zum religiösen Stande berufen fühle, und daß ich gegen die Gelübde protestiert habe, die ich nicht freiwillig abgelegt.«

»Es ist Sache der Gesetze, über diese Angelegenheit zu entscheiden, und wie sie sich aussprechen mögen, Sie müssen doch noch weiter die Pflichten des religiösen Lebens erfüllen.«

»Niemand, mein Herr, ist darin pünktlicher als ich.«

»Haben Sie sich über jemand zu beklagen?«

»Nein, mein Herr, ich habe es Ihnen bereits gesagt, ich bin nicht hierhergekommen, um anzuklagen, sondern um mich zu verteidigen.«

»Gehen Sie!«

»Mein Herr, wohin soll ich gehen?«

»In Ihre Zelle.«

Ich that einige Schritte, dann kehrte ich um und warf mich zu den Füßen der Oberin und des Archidiakon nieder.

»Nun, was giebt's?« fragte er.

»Sehen Sie selbst,« sagte ich zu ihm, indem ich auf meinen an mehreren Stellen verletzten Kopf, auf meine blutigen Füße, meine geschundenen Arme und meine schmutzige und zerissene Kleidung deutete.

»Gehen Sie«, sagte der Archidiakon zu mir.

Einer der Geistlichen gab mir die Hand, um mich aufzuheben, und der Archidiakon fuhr fort:

»Ich habe Sie verhört; jetzt werde ich Ihre Oberin verhören und werde diesen Ort nicht eher verlassen, als bis die Ordnung wieder hergestellt ist.«

Ich zog mich zurück und fand das ganze Haus in Aufregung; alle Nonnen standen vor ihren Zellen; doch sobald ich erschien, verschwanden sie, und ich hörte ein[79] langes Geräusch von sich schließenden Thüren, die heftig hingeworfen wurden. Ich kehrte in meine Zelle zurück, warf mich wieder auf die Kniee und bat Gott, mir die Mäßigung, mit der ich zu dem Archidiakon gesprochen, zu bewahren und ihm meine Unschuld und die Wahrheit kundzuthun. Ich betete, als der Archidiakon und die Oberin in meiner Zelle erschienen. Schnell erhob ich mich. Der Archidiakon blieb stehen, warf der Oberin entrüstete Blicke zu und sagte:

»Nun, Madame?«

»Das wußte ich nicht,« versetzte sie.

»Sie wußten es nicht? Sie lügen! Sind Sie nicht jeden Tag hier eingetreten, und kamen Sie nicht erst vorhin von hier? ... Schwester Susanne sprechen Sie! Ist Madame heute bei Ihnen gewesen?«

Ich gab keine Antwort, und er bestand nicht weiter auf seiner Frage; doch die jungen Geistlichen zeigten die größte Überraschung. Alle gingen hinaus, und ich hörte, wie der Archidiakon auf dem Gange sagte:

»Sie sind unwürdig, Ihr Amt auszuüben und verdienten abgesetzt zu werden. Ich werde beim Erzbischof Klage führen; diese Unordnung muß aufhören, bevor ich dieses Haus verlasse.«

Seit diesem Augenblicke hörte ich nichts weiter mehr, doch ich bekam Wäsche, andere Kleider, Betten, Tücher, Gefäße, ein Gebetbuch, einen Rosenkranz, ein Kruzifix, Fensterscheiben, mit einem Worte alles wieder, was mich in den gewöhnlichen Zustand der Nonnen zurückversetzte.

Was meine Angelegenheiten betraf, so stand es um dieselben nicht besonders günstig. Herr Manouri veröffentlichte eine erste Denkschrift, die wenig Aufsehen erregte, weil sie zu viel Geist, nicht genügend Pathos und fast gar keine Gründe enthielt. Doch man darf diesem geschickten Advokaten keinen Vorwurf machen, denn ich wollte um keinen Preis, daß er den Ruf meiner Eltern angriffe; ich wünschte,[80] daß er den geistlichen Stand und namentlich das Haus in dem ich mich befand, schone; ich wollte nicht, daß er meine Schwestern und meine Schwager in allzu verhaßten Farben schildere.

Herr Manouri veröffentlichte eine zweite Denkschrift, die eine größere Wirkung erzielte. Man nahm sich meiner lebhaft an. Noch einmal erbot ich mich, meinen Schwestern den vollständigen und ungeschmälerten Besitz der Hinterlassenschaft meiner Eltern zu überlassen. Einen Augenblick nahm mein Prozeß die günstigste Wendung, und ich hoffte, frei zu werden, doch ich wurde nur um so grausamer enttäuscht; meine Angelegenheit wurde in öffentlicher Sitzung verhandelt und zu meinen Ungunsten entschieden. Die ganze Klostergemeinschaft war davon unterrichtet, nur ich wußte davon nichts. Das war eine Aufregung, ein Tumult, eine Freude; bei der Oberin ging es hin und her; kleine heimliche Unterredungen fanden statt, und die Nonnen liefen von einer Zelle in die andere. Ich zitterte am ganzen Leibe, konnte weder in meiner Zelle bleiben, noch sie verlassen; dazu hatte ich nicht eine Freundin, in deren Arme ich mich hätte werfen können. Ich wollte beten und war dazu nicht im stande; ich warf mich auf die Kniee, sammelte mich und begann ein Gebet; doch bald wurde mein Geist unwillkürlich unter meine Richter versetzt; ich sah sie vor mir, ich hörte die Advokaten, ich wandte mich an sie, unterbrach den meinigen und fand, daß meine Sache schlecht verteidigt wurde. Endlich machte der Lärm einem tiefen Schweigen Platz; die Nonnen sprachen nicht mehr zu einander, und es kam mir vor, als hätten sie im Chor hellere Stimmen als gewöhnlich. Als der Gottesdienst zu Ende war, zogen sie sich schweigend zurück, und ich redete mir ein, daß die Erwartung sie ebenso beunruhige, als mich; doch nachmittags begann der Lärm und die Bewegung plötzlich wieder auf allen Seiten; ich hörte, wie sich Thüren öffneten[81] und schlossen, wie die Nonnen hin- und her eilten, auch vernahm ich das Murmeln leise sprechender Personen.

Ich legte das Ohr an mein Schlüsselloch, doch es war mir, als schwiege man und ginge auf den Fußspitzen, wenn man an meiner Thür vorüberkam. Ich ahnte, daß ich meinen Prozeß verloren hatte, und zweifelte keinen Augenblick daran. Ich begann, ohne zu sprechen, in meiner Zelle hin und her zu gehen; ich ersticke, konnte keine Klage herausbringen, und lehnte die Stirn bald gegen die eine Wand, bald gegen die andere; ich wollte mich auf meinem Bette ausruhen, doch ein starkes Herzklopfen hinderte mich daran. In diesem Zustand befand ich mich, als man mir sagte, es wünsche mich jemand zu sprechen. Ich ging hinunter, wagte aber nicht weiter zu gehen, denn diejenige, die mich benachrichtigte war so heiter, daß ich glaubte, die Nachricht, die man mir brachte, könnte nur sehr traurig sein; dennoch ging ich. Vor der Thür des Sprechzimmers angelangt, blieb ich stehen und verbarg mich in einem Winkel; ich vermochte nicht, mich aufrecht zu halten; dennoch trat ich nach einiger Zeit ein.