In dem Ton ihrer Stimme lag so viel Autorität und Festigkeit, daß ich glaubte, mich ihren Augen entziehen zu müssen. Meine Thränen rannen an meinen Armen herunter, und ich war damit vollständig bedeckt, ohne daß ich es bemerkt hatte. Wir kamen nach Hause, wo sie mich sogleich in ein kleines Zimmer brachte, das sie für mich hergerichtet hatte.

Damit betrat ich mein neues Gefängnis, in dem ich sechs Monate zubrachte, und wo ich alle Tage vergeblich um die Gnade flehte, sie zu sprechen, meinen Vater wieder zu sehen oder ihnen wenigstens schreiben zu dürfen. Man brachte mir zu essen und bediente mich; eine Magd begleitete mich an den Festtagen zur Messe und schloß mich dann wieder ein. Ich las, ich arbeitete, ich weinte, und manchmal sang ich auch, und so flossen meine Tage dahin. Ein geheimes Gefühl hielt mich aufrecht, das Gefühl, daß ich frei war und daß mein Schicksal, so hart es auch war, sich ändern konnte. Doch es war bestimmt, ich sollte Nonne werden, und ich ward es.[18]

Diese unglaubliche Unmenschlichkeit und Hartnäckigkeit von seiten meiner Eltern bestärkten mich vollends in der Annahme, die ich hinsichtlich meiner Geburt hegte; wenigstens habe ich nie einen anderen Grund finden können, sie zu entschuldigen. Doch was bis dahin nur eine Vermutung war, sollte sich bald in Gewißheit verwandeln.

Während ich zu Hause eingesperrt war, machte ich nur wenige äußerliche Religionsübungen; doch schickte man mich an den Vorabenden der großen Feste zur Beichte. Ich habe bereits gesagt, daß ich denselben Beichtvater wie meine Mutter hatte; ich sprach mit ihm und setzte ihm die ganze Härte des Benehmens auseinander, mit der man seit drei Jahren gegen mich verfuhr.

Er wußte das. Besonders beklagte ich mich über meine Mutter mit Bitterkeit und Groll. Dieser Priester war spät in den geistlichen Stand eingetreten. Er war menschlich gesinnt, hörte mich ruhig an und sagte zu mir:

»Mein Kind, beklagen Sie Ihre Mutter, beklagen Sie sie noch mehr, als Sie sie tadeln. Ihre Seele ist gut, seien Sie überzeugt, daß sie gegen ihren Willen so handelt.«

»Gegen ihren Willen, mein Herr, was kann sie denn dazu zwingen? Hat sie mich nicht in die Welt gesetzt? Und welcher Unterschied besteht denn zwischen mir und meinen Schwestern?«

»Ein großer Unterschied.«

»Ein großer? Ich verstehe Ihre Worte nicht!«

Ich wollte eben einen Vergleich zwischen mir und meinen Schwestern anstellen, als er mich unterbrach und sagte:

»Nein, sage ich Ihnen, nein; die Unmenschlichkeit ist nicht das Laster Ihrer Eltern. Versuchen Sie, Ihr Schicksal in Geduld zu tragen. Ich werde Ihre Mutter aufsuchen, und seien Sie überzeugt, daß ich allen Einfluß, den ich auf ihren Geist besitze, aufbieten werde, um Ihnen dienlich zu sein.«

Am folgenden Sonnabend gegen 51/2 Uhr abends kam[19] die Magd, die mich bediente, zu mir herauf und sagte:

»Ihre Frau Mutter befiehlt Ihnen, sich anzuziehen und herunterzukommen!«

Vor der Thür fand ich einen Wagen, in dem wir, die Magd und ich, Platz nahmen, und ich erfuhr, daß wir zum Pater Seraphin zu den Feuillantinern fuhren. Er erwartete uns und war allein. Die Magd entfernte sich, und ich trat in das Sprechzimmer. Unruhig und neugierig, was er mir wohl zu sagen haben möchte, setzte ich mich, und er sprach nun folgendes zu mir:

»Mein Fräulein, das Rätsel des strengen Benehmens Ihrer Eltern gegen Sie soll sich jetzt für Sie lösen; ich habe hierfür die Erlaubnis Ihrer Frau Mutter erhalten. Sie sind klug, Sie besitzen Geist und Festigkeit und stehen in einem Alter, wo man Ihnen ein Geheimnis anvertrauen darf, selbst wenn es Sie nicht persönlich anginge. Ihre Mutter hat geglaubt, auch Sie ohne dieses Mittel ihren Plänen zugänglich zu machen; doch sie hat sich getäuscht und ist erzürnt darüber. Heute kommt sie auf meinen Rat zurück und beauftragt mich, Ihnen mitzuteilen, daß Sie nicht die Tochter des Herrn Simonin sind.«

Auf der Stelle erwiderte ich ihm:

»Das hatte ich geahnt!«

»Sehen Sie jetzt, mein Fräulein, denken Sie darüber nach, und urteilen Sie, ob Ihre Frau Mutter ohne Einwilligung, ja, selbst mit der Einwilligung Ihres Herrn Vaters, Sie Kindern gleichstellen darf, deren Schwester Sie nicht sind ...«

»Aber, mein Herr, wer ist denn mein Vater?«

»Mein Fräulein, das hat man mir nicht anvertraut. Es ist nur zu gewiß,« fügte er hinzu, »daß man Ihre Schwestern übertrieben begünstigt und alle möglichen Vorkehrungen getroffen hat, durch Ehekontrakte, durch Veräußerung der Güter, durch Stipulationen, durch Fideikommisse und andere Mittel,[20] den Ihnen zukommenden Pflichtteil auf nichts zu reduzieren, im Falle Sie eines Tages sich an die Gerichte wenden sollten. Wenn Sie eines Tages Ihre Eltern verlieren, so werden Sie wenig vorfinden; Sie weisen das Kloster zurück, vielleicht werden Sie das noch bedauern ...«

»Nein, mein Herr, niemals; auch verlange ich nichts!«

»Sie wissen nicht, was Arbeit, Not und Sorgen sind!«

»Ich kenne wenigstens den Preis der Freiheit und die Last eines Standes, zu dem man sich nicht berufen fühlt!«

»Ich habe gesagt, was ich Ihnen zu sagen hatte; jetzt ist es an Ihnen, darüber nachzudenken!«

Damit erhob er sich.

»Mein Herr, noch eine Frage!«

»Soviel Sie wollen ...«

»Wissen meine Schwestern, was Sie nur mitgeteilt haben?«

»Nein, mein Fräulein!«

»Wie konnten sie sich dann entschließen, ihre Schwester zu plündern, denn sie halten mich doch dafür?«

»Ach, mein Fräulein, der Eigennutz, der Eigennutz; sie hätten nicht so gute Partieen gemacht, und deshalb rate ich Ihnen, nicht auf Ihre Schwestern zu rechnen, wenn Sie Ihre Eltern verlieren sollten; seien Sie überzeugt, man wird Ihnen bis auf den letzten Heller den kleinen Teil streitig machen, den sie mit Ihnen zu teilen haben. Sie haben viele Kinder, und dieser Vorwand wird ihnen stichhaltig genug erscheinen, um Sie zur Armut zu zwingen. Wenn Sie mir folgen wollen, so versöhnen Sie sich mit Ihren Eltern, thun Sie, was Ihre Mutter von Ihnen erwartet und gehen Sie ins Kloster! Man wird Ihnen eine kleine Pension aussetzen, mit der Sie Ihre Tage, wenn nicht glücklich, so doch erträglich verbringen werden. Gehen Sie, mein Fräulein, Sie sind gut und klug, und denken Sie über das nach, was Sie eben gehört haben!«

Ich erhob mich und begann zu weinen. Ich sah, daß[21] er selbst gerührt war; er schlug die Augen gen Himmel und begleitete mich hinaus. Die Magd, die mich hergebracht, erschien, und wir kehrten nach Hause zurück.

Es war spät, und ich beschloß, meiner Mutter mein Herz auszuschütten, daher ließ ich sie um eine Unterredung bitten, die mir auch bewilligt wurde.

Es war im Winter, sie saß in einem Sessel vor dem Feuer, ihr Gesicht war streng, ihr Blick starr, die Züge unbeweglich. Ich näherte mich ihr, warf mich ihr zu Füßen, und bat sie für alles Unrecht, das ich gegen sie begangen, um Verzeihung.

»Eben durch das,« erklärte sie, »was du mir sagen wirst, kannst du dir diese Verzeihung verdienen. Stehe auf, dein Vater ist abwesend; du hast also volle Zeit, dich auszusprechen! Du hast den Pater Seraphin gesehen; weißt endlich, wer du bist, und was du von mir erwarten kannst, wenn es nicht in deiner Absicht liegt, mich mein ganzes Leben für einen Fehltritt zu strafen, den ich schon allzu sehr gebüßt habe.