Von ihr ließ er sich noch lange nicht unterdrücken. Er besaß die Lizenz. Eine Lizenz von der Regierung, zu spielen, wo und zu welcher Zeit immer es ihm behagte. Er besaß eine Krücke und eine Lizenz und eine Auszeichnung. Alle sahen, daß er invalid war, ein Soldat, der fürs Vaterland geblutet. Und es gab immer noch Achtung vor solchen Männern. Wehe, wenn man ihn nicht geachtet hätte!
Denn wie? erfüllte er nicht eine Pflicht, wenn er auf seinem Leierkasten musizierte? War die Lizenz, die ihm die Regierung gewissermaßen eigenhändig überreicht hatte, nicht eine Verpflichtung und keine Vergünstigung? Indem er spielte, enthob er sie der Sorge um ihn und befreite das Land von einer ständigen Steuer. Ja, es war kein Zweifel, daß seine Tätigkeit nur mit jener der Behörden zu vergleichen war und er selbst etwa mit einem Beamten; insbesondere, wenn er die Nationalhymne spielte.
Kap. 4
Es geschah in der Pestalozzistraße, an einem heißen Donnerstag und im Hof des Hauses Nummer 37 (der Kirche aus gelben Ziegelsteinen gegenüber, die, rings um sich, mitten in der Straße einen grünen Rasen geschaffen hatte, als hätte sie ihre Besonderheit vor allen anderen Häusern hervorheben wollen), daß Andreas Pum das Verlangen überwältigte, einen Marsch zu spielen, vielleicht, weil die wachsende Mattigkeit des Tages und Andreas' eigene eine aufrüttelnde Unterbrechung notwendig machten.
Andreas stellte den Wirbel an der linken Seitenwand des Leierkastens auf »Nationalhymne« und drehte die Kurbel so hurtig, daß die feierlichen Klänge ihre langsame Pracht verloren und hastig zu hüpfen begannen, die Pausen vergaßen und wirklich eine entfernte Ähnlichkeit mit der Melodie eines Marsches erreichten.
Fünf Kinder standen im Hof, und zwei Dienstmädchen lehnten ergriffen über die Fensterbrüstungen. Eine schwarzgekleidete Frau trat aus dem Hausflur, lenkte ihre männlichen, zielbewußten Schritte in die Richtung, in der sich Andreas befand und blieb hinter ihm stehen. Sie legte eine kräftige Hand auf die Schulter Andreas Pums und sagte: »Mein guter Gustav ist gestern selig geworden. Spielen Sie was Melancholisches!«
Andreas, obwohl nicht feige von Natur, erschrak dennoch ob der Überraschung, brach ab, so daß die Kurbel mit aufwärts ragendem Griff steckenblieb, und wandte sich um. Dabei tat es ihm leid, daß die starke und warme Hand zögernd, aber notgedrungen von seiner Schulter glitt. Er sah der Witwe in das gerötete Antlitz. Es gefiel ihm. Wenn er auch nicht Zeit genug fand, ihr Alter abzuschätzen, so durchströmte ihn doch plötzlich die Erkenntnis, daß die schwarzgekleidete blonde Frau eine Witwe in jenem Alter war, welches man »das beste« nennt. Aus dieser Einsicht zog Andreas vorläufig noch keine weiteren Schlüsse. Allein, eine dunkle Empfindung breitete sich in ihm aus, daß diese Frau zugleich in den Hof und in sein Leben getreten war. Es war ihm, als beginne es in seiner Seele zu dämmern.
»Mit dem größten Vergnügen«, sagte Andreas und vollzog eine leichte Verbeugung mit dem Kopfe. Als erforderte ein melancholisches Lied ganz besondere Vorbereitungen, schraubte er mit wichtiger Umständlichkeit den Nationalhymne-Wirbel ab, gab der Kurbel einen Schwung, daß ihr Handgriff hinunterglitt und der letzte noch steckengebliebene Ton dem Kasten entfloh, ähnlich einem unterdrückten und abgebrochenen Gähnen. Hierauf drehte Andreas den viertletzten Wirbel. Er hatte eine Sekunde lang zwischen der »Lorelei« und »An der Quelle saß der Knabe« geschwankt. Er entschied sich für die »Lorelei«, weil er annahm, daß dieses Lied der Witwe bekannt sein müsse.
Diese Annahme bestätigte sich. Die Witwe, die sich in ihr Zimmer zurückgezogen hatte, um die melancholische Weise bequemer an ihrem Fenster zu genießen, begann zu singen. Sie bemühte sich, den Klängen des Instruments zuvorzukommen, so, als triebe sie die Ungeduld und der Ehrgeiz, sich und den Zuhörern zu beweisen, daß sie die Melodie auswendig kannte und gleichsam auf den Kasten nicht angewiesen war; während Andreas, im Gegensatz zu der Eile der Frau, eine ganz besondere Langsamkeit nötig befand und gemächliche Drehungen vollführte, um die Melancholie des Liedes deutlicher wirken zu lassen. Auch befand er sich selbst in jener Stimmung, die uns in entscheidenden Augenblicken unseres Lebens befällt und der wir gerne durch eine hervorragende Feierlichkeit nachzugeben gewohnt sind.
Nachdem er die »Lorelei« über eine Viertelstunde gedehnt hatte, kam die Witwe wieder in den Hof, Kuchen, Brot und eine Tüte mit Früchten in der Hand. Andreas dankte. Die Witwe sagte: »Mein Name ist Blumich, geborene Menz. Kommen Sie nach dem Leichenbegängnis wieder.« Andreas fand, daß es angemessen sei, ihr die Hand zu drücken. Er tat es, ihre geschlossene Faust mit seinen Fingern umspannend, und sagte: »Mein Beileid, Frau Blumich.«
An diesem Tage spielte er nicht mehr.
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