Denn es ereignete sich nicht selten, daß Willi, wenn er an angenehmen Tagen einen Spaziergang unternahm, sich vor das Delikatessenhaus begab, an dessen Tür die prallen Würste wie Gehenkte an einem Nagel hingen. Mehr aus Übermut als aus Lust am Diebstahl schnitt Willi dann zwei oder drei Würste ab. Ihn lockten Gefahren und Freude an der eigenen Geschicklichkeit. Man hätte es außerdem als Sünde bezeichnen können, wenn er das Angebot des Schicksals ausgeschlagen hätte. Andreas ahnte etwas von der Herkunft dieser Würste. Einmal fragte er, woher sie stammten. »Iß und schweig«, sagte Willi, »Ordnung muß sein.«
Es verstieß glücklicherweise nicht gegen die Ordnung, wenn sich Andreas, während er sein Abendessen verdaute, der Betrachtung der Malereien am Leierkasten hingab. Die unvollendete Verzauberung, welche das Bild darstellte, zwang zu Fortsetzungen. Andreas hätte gerne weiter gemalt. Er hätte auch die zwei noch in menschlicher Gestalt lebenden Kinder in Hirschkühe verwandelt, oder in andere Tiere. Es ergaben sich viele Möglichkeiten. Konnte man Kinder nicht in Ratten verwandeln? Huh! Ratten! Oder in Katzen; in junge Löwen; in kleine niedliche Krokodile; in Eidechsen; in Bienen; in Vögel – Tirili! In Vögel. Ein guter Maler, der mit Pinsel und Farben umzugehen verstand, könnte das Bild fortsetzen.
Kurz nach Mitternacht kam Klara. Sie entkleidete sich. Andreas ließ eine Augenlidspalte offen und sah sie im Hemd. Sein Blick angelte nach ihrer freien Brust, und sein Herz klopfte in der Hoffnung, ein Schulterband würde sich lösen. Dann hörte er Küsse und Umarmungen und schlief ein, von kräftigen, breithüftigen Witwen mit vorgewölbten Busen träumend.
Ach, er sehnte sich nach einem Weibe und einem eigenen Zimmer und einem breiten Ehebett voll schwellender Wärme. Denn weit vorgeschritten war der Sommer und ließ die Grausamkeit des Winters ahnen. Allein stand Andreas in der Welt. Den letzten Winter hatte er noch im Spital verlebt. Jetzt drohte die winterliche Straße und erhob sich manchmal vor ihm, steil geneigt, wie eine Rodelbahn. Unser Feind ist die Straße. In Wirklichkeit ist sie so, wie sie uns erscheint, steil und eine schiefe Ebene. Wir merken es nur nicht, wenn wir sie durchschreiten. Aber im Winter – man liest es in den Zeitungen – vergessen die Portiers und die Ladendiener, dieselben, die uns aus den Häusern und Höfen treiben und deren scheltende Worte uns verfolgen, Asche oder Sand auf das Glatteis zu streuen, und wir stürzen, von der Kälte der Beweglichkeit unserer Glieder beraubt.
Andreas hätte gerne bis zum Winter eine Frau gehabt, eine jener wehrhaften, starken und streitbaren Portiersfrauen, vor denen er fliehen mußte und deren imposante Stellung er stets dennoch ahnte: er sah sie die Hände in die Hüften stemmen, so daß diese hervorquollen und das Hinterteil sich straffte, massig und weiß unter den Röcken. Solch ein Weib sein eigen nennen – das gab Kraft, gab Mut und Sicherheit und machte den Winter zum Kinderspiel.
Früh schon weckte ihn der Fluch Willis, den die aufstehende Klara im besten Morgenschlaf gestört hatte. Dann betrat Andreas die morgendliche Straße und hinkte eilig mit den Eilenden, als riefe ihn nicht die freie Lust, in einem beliebigen Hof zu spielen, sondern die Notwendigkeit, einen ganz bestimmten, weitabgelegenen zu erreichen. Er hatte auch die Stadt nach Bezirken geordnet und eingeteilt, ganz willkürlich, nach seinen privaten Zwecken, und jedem Tag einen eigenen Bezirk zugedacht. So kam er in immer neue Gegenden, forschend und neugierig, hinkte furchtlos über den glatten Asphalt weiter Straßen und war vorsichtig, hielt heranfahrende Automobile mit seinem erhobenen Stock auf und fluchte hinter bedenkenlosen Chauffeuren. So lernte er die Straße besiegen, die gefährliche Straße, die unser aller Feind ist.
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