Und nun sei barmherzig, Herrin, und gib mir mein Teil.« Sie ließ den Kopf auf die Brust fallen, so daß ihr der üppige schwarze Haarwuchs über das Gesicht sank.

Stemma sann, auf Faustinen niederblickend, und zog ihr mit zerstreuten Fingern einen langen Strohhalm aus dem Haar. »Faustine mein Gespiel«, sagte sie endlich, »ich kann dich nicht richten.«

Die ganze Faustine geriet in Aufruhr. »Warum nicht?« schrie sie empört, »du mußt es, oder ich schreie, daß alle Mauern tönen: Sie hat ihren Mann umgebracht!«

Stemma verhielt ihr den Mund. »Laß das Totengebein!« schalt sie, als drohe sie einem den verscharrten Knochen hervorkratzenden Hunde.

»Sei barmherzig!« flehte Faustine, »laß mir das Haupt abschlagen, nachdem es Gott gekostet und sein Kreuz geküßt hat. Dann wächst es mir im Himmel wieder an und, Stenio rechts, Lupulus links, sitzen wir auf einer Bank und geben uns die Hände. Danach verlangt mich«, und sie streckte den Hals.

»Ich kann dich nicht richten, Törin«, sagte Stemma sanfter. »Aus drei Gründen nicht. Merk auf!

Als du deine Tat begingest, lebte und regierte noch der Judex mein Vater. Nach seinem Ende und dem des Comes, da ich das Richtschwert erbte, habe ich laut verkündigt: ›Ab ist alles Geschehene! Von nun an sündige keiner mehr!‹ Aber auch wenn ich dieses nicht hätte ausrufen lassen, könnte ich dennoch dich nicht richten und du gingest frei aus, denn seit deiner Tat sind fünfzehn völlige Jahre in das Land gegangen und hier ist uralter Brauch, daß Schuld verjährt in fünfzehn Jahren.«

»Verjährt? was ist das?« fragte Faustine verblüfft.

»Durch die Wirkung der Zeit ihre Kraft verliert.«

Ein höhnisches Lachen lief blitzend über die weißen Zähne der Räterin. »Also zum Beispiel«, sagte sie, »wenn ich gestern noch meinen Mann vergiftet hatte und über Nacht wird die Zeit völlig, so bin ich heute keine Mörderin mehr. Diese Dummheit!«

»Doch, du bleibst eine Mörderin«, belehrte sie Stemma langmütig, »aber du hast mit dem irdischen Richter nichts mehr zu schaffen, sondern nur noch mit dem himmlischen. Sühne durch gute Werke! Du hast den Anfang gemacht: fünfzehn mühselige und rechtschaffene Jahre wiegen.«

»Nichts wiegen sie!« zürnte Faustine. »Ich sehe schon, du willst meiner schonen! Du heißest die Richterin, aber du bist die Ungerechte, du machst Ausnahmen, du siehst die Person an!«

»Schweige!« befahl die Richterin. »Ich bin denn doch klüger als du und ich sage dir: deine Sache ist nicht mehr richtbar. Noch aus einem letzten Grunde. Ich kann dich nicht verdammen, auch wenn ich dir den Gefallen tun wollte, denn es steht kein Zeuge gegen dich als deine törichte Zunge. Aber weißt du was: gehe nach Chur und beichte dem Bischof. Er ist der Hirte und du bist das Schäflein. Er mag dir die härteste Buße auflegen: Fasten, schwere Dienste, härenes Hemde, blutige Geißelungen. Fordere sie, ist er dir zu milde! Dann aber gib dich zufrieden! Unterwirf dich ganz der Kirche: sie vertritt dich und du hast eine sichere Sache!« Sie sagte das mit einem überzeugenden Lächeln.

»Ich weiß nicht«, schluchzte Faustine, »Gott sei davor, daß eine Missetäterin wie ich seinere heiligen Kirche nicht gehorche. Aber anders wäre es einfacher gewesen. Geplagt habe ich mich schon und im Schweiße meines Angesichtes zerarbeitet fünfzehn Jahre lang mit dem Trost und Vorsatz, sobald mein Kind in sein Alter und an den Mann gekommen, stracks in den Himmel zu fahren. Jetzt verrückst du mir die kurze Leiter und vertrittst mir den Weg.«

»Der nach Chur ist kurz und der an unser Erde ist nicht lang Gehorche, Faustine!« Sie ergriff die Fackel und schritt die Stufen vorauf. Faustine folgte wie eine Seele in Pein.

Unter dem Burgtor, das sich wie von selbst öffnete, denn der Wärtel hatte die wandernde Helle wahrgenommen, blickte die Richterin in die Nacht hinaus und sagte zu Faustinen: »Lege die Schuhe ab und laß die scharfen Kiesel deine Sohlen zerreißen, denn du bist eine große Sünderin!« Weinend trat Faustine ihren dunkeln Weg an.

Frau Stemma hatte recht gesagt. Da sie die hochgelegene Burgkammer betrat, schlief Palma. Neben ihren tiefen Atemzügen glomm auf einem Dreifuß eine hütende Flamme. Das Mädchen lag in ihrem ganzen Gewande auf dem Polster, die Hand über das Herz gelegt. Sie hatte das freudig pochende beruhigen wollen und war daran entschlummert. Die Mutter betrachtete die Gebärde und konnte sich der Erinnerung nicht erwehren.

Nach dem Tode des Vaters und des Gatten und nach der Geburt Palmas hatte die noch nicht zwanzigjährige Richterin die Regierung ihres Erbes mit entschlossener Hand ergriffen. Die dem jungen und schönen Weibe unter einem verwilderten, begehrlichen Adel von selbst entstehenden Freier und Feinde hatte sie mit einer über ihre Jahre scharfsinnigen Politik veruneint und der Reihe nach mit den Waffen ihrer Lehensleute gebändigt.