Vielleicht sorgt sie, wenn sie nicht mehr da wäre, könntest du deine Schwester in Unglück stürzen –«
»In Unglück?«
»Ich meine sie berauben und verjagen unter dem Vorwande einer unaufgeklärten und ungeschlichteten Sache. Darum, vermute ich, will sie dich nach Malmort haben und sich mit dir vertragen.«
Wulfrin lachte. »Wirklich?« sagte er. »Sie hat einen schönen Begriff von mir. Meine Schwester plündern? Das arme Ding! Im Grunde kann es nicht dafür, daß es auf die Welt gekommen ist. Doch auch von ihr will ich nichts wissen.« Während er redete, zählte sein Blick die Jahresringe der jungen Palme. »Fünfzehn Ringe?« sagte er.
»Fünfzehn Jahre«, berichtigte Graciosus.
»Und wie schaut sie?«
»Stark und warm«, antwortete Gnadenreich mit einem unterdrückten Seufzer. »Sie ist gut, aber wild.«
»So ist es recht. Und dennoch will ich nichts von ihr wissen.«
»Sie aber weiß von nichts anderm als von dem fremden reisigen fabelhaften Bruder, der sich mit den Sachsen balgt und mit den Sarazenen rauft. ›Wann der Bruder kommt‹ – ›Das gehört dem Bruder‹ – ›Das muß man den Bruder fragen‹ – davon werden ihr die Lippen nicht trocken. Jedes Hifthorn jagt sie auf, sie springt nach deinem Becher und damit an den Brunnen. Sie wäscht ihn, sie reibt ihn, sie spült ihn.«
»Warum, Narr?«
»Weil sie dir ihn kredenzen will und dein Vater sich daraus den Tod getrunken hat.«
»Dummes Ding! Du also wirbst um sie?«
Der ertappte Graciosus errötete wie ein Mädchen. »Die Mutter begünstigt mich, aber an ihr selbst werde ich irre«, gestand er. »Kämest du heim, ich bäte dich, ein Wort mit ihr zu reden.«
Wieder musterte Wulfrin den netten Jüngling und wieder klopfte er ihn auf die Schulter. »Sie hält dich zum besten?« sagte er.
»Sie redet Rätsel. Da ich neulich auf mein Herz anspielte –«
»Schlug sie die Augen nieder?«
»Nein, die schweiften. Dann zeigte sie mit dem Finger einen Punkt im Himmel. Ich blinzte. Ein Geier, der ein Lamm davontrug. Unverständlich.«
»Klar wie der Morgen. ›Raube mich.‹ Das Mädchen gefällt mir.«
»Du willst sie sehen?«
»Niemals.«
Jetzt trat ein Palastschüler mit suchenden Blicken in den Hofraum und dann rasch auf Wulfrin zu. »Du«, sagte er, »die Messe ist aus, der König verläßt die Kirche.« Der »Kaiser« wollte ihm noch nicht über die Zunge.
Wulfrin sprang auf. »Nimm mich mit!« bat Graciosus, »damit ich dem Herrn der Erde nahe trete und ihn reden höre.«
»Komm«, willfahrte Wulfrin gutmütig und bald standen sie neben dem Kaiser, vor welchem ein ehrwürdiger, aber etwas verwilderter Graubart das Knie bog. Gnadenreich erkannte Rudio, den Kastellan auf Malmort, und wunderte sich, welche Botschaft der Räter bringe, denn Karl hielt ein Schreiben in der Hand. Er reichte es dem Abte und Alkuin las vor:
»Erhabener, da ich höre, Du werdest von Rom nach dem Rheine ziehen, flehe ich Dich an, daß Du Deinen Weg durch Rätia nehmest. Seit Jahren haben sich in unsern verwickelten Tälern versprengte Lombarden eingenistet unter einem Witigis, der sich Herzog nennt. Wir, die Herrschenden im Lande, unter uns selbst uneins und ohne Haupt, werden nicht mit ihnen fertig, ja einige von uns zahlen ihnen Tribut. Ein unerträglicher Zustand. Du bist der Kaiser. Wenn Du kommst und Ordnung schaffst, so tust Du, was Deines Amtes ist.
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