Stemma, Judicatrix.«
»Keine Schwätzerin«, sagte der Kaiser. »Meine Sendboten haben mir von der Frau erzählt.« Alkuin betrachtete die Handschrift. »Feste Züge«, lobte er.
»Alkuin, du Abgrund des Wissens«, lächelte Karl, »was ist Rätien? Welche Pässe führen dahin?«
Der kleine Abt fühlte sich durch Lob und Frage geschmeichelt, wendete sich aber nicht an den Gebieter, sondern, als der Höfling und der Schulmeister welcher er war, an die Palastschule, die schon zu einem guten Drittel, den Blondbart inbegriffen, um den Kaiser versammelt stand.
»Jünglinge«, lehrte er und zog die Brauen in die Höhe, »wer seinen Weg durch das rätische Gebirge nimmt, hat, ohne den harten aber in Stücke zerrissenen Damm einer Römerstraße zu zählen, die Wahl zwischen mehreren Steigen, die sich alle jenseits des Schnees am jungen Rheine zusammenfinden. Diese Wege und Stapfen führen im Geisterlicht der Firne durch ein beirrendes Netz verstrickter Täler, das die Fabel mit ihren zweifelhaften Gestalten und luftigen Schrecken bevölkert. Hier ringelt sich die Schlangenkönigin, wie verlockt von einer Schale Milch, einem blanken Wasser zu, gegenüber, aus einem finstern Borne, taucht die Fei und wehklagt.«
»Lehrer, was hat sie für Gründe dazu?« fragte der Rotbart wißbegierig.
»Sie ahnt das ewige Gut und kann nicht selig werden. Dahinter, zwischen Schnee und Eis, in einem grünen Winkel, weidet eine glockenlose Herde und ein kolossaler Hirte, halb Firn halb Wolke, neigt sich über sie. Tiefer unten, bei den ersten Stapfen, verliert die harmlose Fabel ihre Kraft und menschliche Schuld findet ihre Höhlen und Schlupfwinkel. Hier raucht und schwelt eine gebrochene Burg, dort starrt, von Raben umflattert, ein Mörder in den zerschmetternden Abgrund.«
»Wen hat er hinuntergeworfen?« fragte der Rotbart spöttisch.
»Eheu!« jammerte der Abt, »bist du es, Liebling meiner Seele, Peregrin, mein bester Schüler, dessen Knochen in der rätischen Schlucht bleichen?« Er trocknete sich eine Träne. Dann schloß er: »Gegen beides, Fabel und Sünde, hält Bischof Felix in Chur beschwörend seinen Krummstab empor.«
»In schwachen Händen«, scherzte der Kaiser.
»Er ist sehr schön gearbeitet«, rief Graciosus mit der schallenden Stimme eines Chorknaben, »und in seiner Krümmung neigt sich der Verkündigungsengel mit der Inschrift: ›Friede auf Erden und an den Menschen ein Wohlgefallen.‹«
Karl gönnte dem Bischofsneffen einen heitern Blick und wendete sich gegen die Schule: »Stammt einer von euch aus Rätien?«
Wulfrin trat vor. »Ich, Herr. Jung bin ich ausgewandert, doch kenne ich Sprache und Steige.«
»So reite und berichte.«
»Dir zu Dienste, Herr«, verabschiedete sich Wulfrin, wurde aber von dem hartnäckigen Gnadenreich gehalten, der sich seiner bemächtigte und ihn vor den Kaiser zurückbrachte. »Durchlauchtigster«, verklagte er ihn, »er soll auf Malmort bei der Richterin seiner Stiefmutter erscheinen, keiner andern als die dir den Brief geschrieben hat, und er will nicht. Sie besteht darauf, sich vor ihm zu rechtfertigen über das jähe Sterben ihres Gemahles des Comes Wulf.«
»Jener?« besann sich der Kaiser. »Er hat mir und schon meinem Vater gedient und verunglückte im rätischen Gebirge.«
»Vor dem Kastell und zu den Füßen seines Weibes Stemma, die ihm den Willkomm kredenzt hatte«, erinnerte Gnadenreich.
Karl verfiel in ein Nachdenken. »Eben habe ich für die Seele meines Vaters gebetet«, sagte er. »Kindliche Bande reichen in das Grab. Mich dünkt, Wulfrin, du darfst bei der Richterin nicht ausbleiben. Du bist es deinem Vater schuldig«
Wulfrin schwieg trotzig. Jetzt griff der Kaiser rechts nach dem Hifthorn, um die ganze Schule zusammenzurufen und ihr seine Befehle zu geben. Es mangelte. Er hatte es im Palaste vergessen oder absichtlich zurückgelassen, um der Messe als ein Friedfertiger beizuwohnen. »Deines, Trotzkopf!« gebot er und Wulfrin hob sich sein Hifthorn über das Haupt. Karl betrachtete es eine Weile. »Es ist von einem Elk«, sagte er, hob es an den Mund und stieß darein. Da gab das Horn einen so gewaltigen und grauenhaften Ton, daß nicht nur die Höflinge aus allen Ecken und Enden des Kapitols hervorstürzten, sondern auch, was sich ringsum von römischem Volke gehäuft hatte, erstaunt und erschreckt die Köpfe reckte, als nahe ein plötzliches Gericht. Karl aber stand wie ein Cherub.
Im Gedränge des Aufbruchs machte sich der Bischofsneffe noch einmal an den Höfling. »Auf Wiedersehen in Malmort: du gehorchst?«
»Nein«, antwortete Wulfrin.
Zweites Kapitel
Innerhalb der dicken Mauern eines wie aus dem Felsen gewachsenen rätischen Kastells sprudelte ein Quell in klösterlicher Stille. Durch die Zacken bemooster Ahorne rauschte der Abendwind mächtig über den Hof weg und schon rückte das Spätrot hinauf an dem klotzigen Gemäuer. Am Brunnen aber stand ein junges Mädchen und ließ den heftigen Strahl in einen Becher springen, aus dessen von Alter geschwärztem Silber er schäumend empor und ihr über die bloßen Arme spritzte.
»Berg und Wetter sind gut«, murmelte sie. »Mir brannten die Sohlen von früh an ihm entgegenzurennen.
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