Eine tiefe Stille trat ein, das Volk saß mit gesenkten Häuptern und betete leise und brünstig. Dann aber brach es aus – ein Ton, halb Seufzer, halb unterdrückter Wutschrei – langhallend – Schmerz und Ingrimm! Ein Rauschen entstand, von den Sitzen erhob sich die Versammlung und stürzte wild und wirr gegen die Kirchtüren, gegen die hohen Portale, welche der katholische Teil der Bevölkerung bereits umlagerte.
Triumph und Niederlage!
Mönche aller Orden drängten sich hohnlächelnd oder drohend den gedemütigten, still weinenden oder grollenden Ketzern in den Weg, ihre Rosenkränze frohlockend erhebend.
Wie lange war es her, seit sie vor dem Ruf: »Papen uyt! Papen uyt! Die Pfaffen fort! Fort mit den Pfaffen!« diesen selben Ketzern hatten weichen müssen?
So wechseln die Geschicke der Menschen, so wechseln Triumphe und Niederlagen im Kampfe der Geister.
Am zwanzigsten August bestand noch in voller Kraft und großem Ansehen das Handlungshaus van Bergen und Norris; – am siebenundzwanzigsten August löste sich die Firma. Alexander Farnese zog mit großem Pomp in die gewonnene Stadt ein; Jan Geerdes Norris verließ sie mit seinem zehnjährigen Söhnlein und vielen andern, welche die spanische Gewalt nicht ertragen wollten. In der Stadt zurück blieb Michael van Bergen mit seinem sechsjährigen Töchterchen. Jeder der beiden Kompagnons handelte nach seinem Charakter, der starkmütige, zornmütige Norris und der ängstliche, weiche van Bergen. Der eine trotzte dem Verhängnis, solang es ging, und wich, als der Kampf entschieden war, an dieser Stelle, um ihn anderswo wieder aufzunehmen. Der andere beugte sich den Verhältnissen und litt schweigend, was er nicht zu ändern vermochte.
Doch das ist lange vorüber, und unsere beiden Helden sind nicht Geerdes Norris und Michael van Bergen, sondern Jan Norris und Myga van Bergen, die Kinder der einst so berühmten Firma.
In was für einer schreckenvollen, verwüsteten, grauenhaften Welt hatten die beiden Armen das Licht erblickt. Wie oft waren die Wiegenlieder der Mutter durch das Krachen der Geschütze nah und fern zum Schweigen gebracht worden. Wie oft hatten die Väter Söhnchen und Töchterlein niedersetzen müssen von den Knien, weil die Notglocke sie hinausrief auf die Wälle oder zum Rathaus!
Arme kleine Wesen! Niemals hatten sie gleich andern, in glücklicheren Zeiten geborenen Kindern gefahrlos in schattigen Wäldern, auf grünen Wiesen sich umhertummeln dürfen. Niemals hatten sie die blauen Kornblumen, den roten Feldmohn vom Rande der Ackerfelder zum Kranze winden dürfen.
Die Wälder füllten ja die streifenden Parteien des katholischen Königs, die wilden Rotten der Waldgeusen, das rechtlose, heillose, versprengte Gesindel aller Völker Europas.
Auf den grünen Wiesen schlugen die Heere Spaniens, die Söldnerhaufen aus Deutschland, England, Frankreich, Italien, die Krieger der Provinzen, des Prinzen von Oranien ihre Hütten und Gezelte auf.
Die Kornfelder fielen, noch ehe die goldene Frucht reifte, noch ehe die roten und blauen Blumen blühten, den Rossen und Fußtritten der ziehenden Heeresscharen zum Opfer.
Wo war ein friedliches Fleckchen zu finden auf diesem zertretenen Erdenwinkel, welchen der König von Spanien sein Eigentum nannte?
In den engen, dunkeln Gassen der Stadt Antwerpen hinter den hohen Mauern, Wällen und Türmen Paciottis hatten die armen Kinder ihre Spielplätze, und oft genug waren auch diese unsicher und gefahrbringend. Oft genug verwandelten sich die Häuser der Bürger in Kerker, in welchen die Bewohner sich selbst einschließen, in welchen sie ihre eigenen Kerkermeister sein mußten, um sich vor dem draußen umgehenden Unheil zu schützen.
Ganz anders mußte sich die Weltanschauung dieser beiden Kinder als anderer, glücklicherer gestalten, und manche schöne Blüte wurde durch das finstere, kalte Gewölk, das über den Zeiten hing, in der Knospe erstickt und vernichtet.
Wie oft sahen Jan und Myga während der ganzen langen Belagerung des Prinzen von Parma von den Fenstern aus, in welchen sie ihre bunten Puppen und Tiere aufstellten, den Krieg mit seinen Schrecken in der Gasse vorüberziehen!
Ein Paar sollten Jan und Myga werden, hatten die Väter und Mütter unter sich ausgemacht, als die große Firma van Bergen und Norris noch stand. Als die Kapitulation zwischen dem Prinzen Alexander und der Stadt aber unterzeichnet wurde, zerriß in seinem Sinn Jan Geerdes Norris den Vertrag über das Hochzeitsbündnis seines Söhnleins mit dem Töchterlein seines Kompagnons Michael van Bergen. Die Ehefrauen der beiden Handlungsherren waren damals bereits beide tot.
Am siebenundzwanzigsten August fünfzehnhundertfünfundachtzig wurden die beiden Kinder voneinander getrennt, und der zehnjährige Bube, das sechsjährige Mädchen schluchzten bitterlich darob; aber es war Krieg, und der Krieg trennt wohl noch viel grausamer Herz von Herzen. Man hielt sich versichert, daß die beiden Kinder ihre ersten Jugenderinnerungen bald genug vergessen haben würden.
Wir wollen sehen, ob dem so war. – –
Die Jahre sind vergangen – tot ist Johann Geerdes Norris, tot ist Michael van Bergen, nachdem sein Reichtum vergangen ist wie Schnee an der Sonne.
In ihrem Stübchen hinter der Mauer am Kai zu Antwerpen saß Myga in ihren schwarzen Trauerkleidern – ein wunderholdes Jungfräulein, noch gar bleich von den langen Nachtwachen am Bette ihres sterbenden Vaters. Sie spann ihre Augen waren voll Tränen und ihr Herz voll unausgeklagter Schmerzen und Sorgen. Seit dem Tode ihres Vaters war das arme Kind ganz einsam in der großen Stadt, in einer so wilden Zeit, wo die Schwachen fast rechtlos jeder Unterdrückung, jedem Übermut preisgegeben waren.
Ganz verlassen war Myga van Bergen?
Armes Kind! – Daß sie nicht ganz verlassen war, gehörte auch mit zu den Sorgen Mygas.
Wohl kümmerte sich noch jemand um das Kind Michaels van Bergen, wohl wußte die Waise, daß ein treues Herz ihr geblieben war, daß – Jan Norris von Amsterdam den letzten Blutstropfen für sie hingehen würde; aber Jan Norris war ein Verfemter, dem der Galgen drohte, wenn eine spanische Hand ihn griff in den Gassen von Antwerpen. Und Jan Norris, der Wassergeuse, erschien oft in mancherlei Vermummung in den Gassen von Antwerpen.
Jan Norris hatte seine Jugenderinnerungen nicht so bald vergessen, wie Jan Geerdes Norris, sein Vater, meinte.
Noch immer waren Jan und Myga Bräutigam und Braut. Keine Macht auf Erden solle sie trennen, hatten sie sich gegenseitig geschworen; was jedoch daraus werden sollte, wußte aber, solange der alte Michael noch lebte, keins von beiden zu sagen.
Nun war Michael van Bergen tot und begraben seit vierzehn Tagen; aber Jan war verschwunden seit Monden. Lebte er noch? Hatten ihn die Wogen verschlungen? Hatten ihn die Spanier beim Entern gefangen und gehangen?
Wer konnte das sagen?
Was sollte die arme verlassene Myga anfangen in der wüsten Welt, wenn Jan tot war?
Die Nacht ruckte allmählich vor; aber Myga fürchtete sich, sich niederzulegen. Schlafen konnte sie doch nicht vor Gram und Beklemmung, was sollte sie im Bette? Es wurde allmählich recht kalt im Stübchen, aber die Waise schien die Kälte nicht zu spüren, sie legte nicht neue Kohlen in den winzigen Kamin. Sie stellte die Spindel weg und bedeckte das Gesicht mit den Händen, das Haupt zur Brust neigend. So saß sie noch eine geraume Zeit, bis sie sich endlich fröstelnd doch erhob, um ihre Lagerstatt zu suchen.
Noch einmal beugte sie sich zu den Riegeln ihrer Tür nieder, um nachzuschauen, ob dieselben auch ordentlich vorgeschoben seien, als sie auf einmal horchte – atemlos horchte.
»Myga?!« flüsterte es draußen.
Die Waise erzitterte am ganzen Körper.
»O mein Gott«
»Myga?!« flüsterte es noch einmal durch das Schlüsselloch.
Mit einem Schrei schob das junge Mädchen die Riegel weg und drehte den Schlüssel im Schloß. Auf flog die Tür, und ein Jüngling in der Offizierstracht eines deutschen Söldnerregiments mit der spanischen Feldbinde über der Schulter hielt im nächsten Augenblick das schöne Kind in den Armen.
»Myga, O Myga!«
»O Jan, Jan, lieber, lieber Jan!«
Heiße Küsse ersetzten für die nächsten Minuten das Wort den beiden. Dann aber sank Jan Norris, wie es schien, vollständig erschöpft, auf den nächsten Stuhl, und Myga bemerkte nun erst die Unordnung der Kleider ihres Geliebten, bemerkte, daß er den Hut Verloren hatte, daß seine Wange Von einer leichten Schramme blutete.
»Um Gottes willen, was ist wieder geschehen, Jan? Ich zittere – o du hast dich wieder einmal tollkühn in Gefahr gestürzt – o Jan, Jan, böser Jan!«
»Wahrhaftig, um ein Haar, so hätten sie mich diesmal erwischt, Myga! Aber fürchte dich nicht, süßes Lieb, nur beinahe hätten sie mich gepackt – Teufel, wie ein Hund hätt ich freilich gebaumelt, wenn's nicht so gut abgelaufen wär!«
»O Jan, und du willst mich lieben? Du willst mich erretten aus dieser Stadt? O barmherziger Gott, zugrunde wirst du gehen und ich auch, und mein Vater ist auch tot, o du heiliger, barmherziger Gott, was soll aus mir werden? Wer soll mich schützen, wer soll mir helfen?«
»Du hast recht! Leider Gottes hast du recht, armes Lieb! Ach, und dein Vater ist nun auch gestorben, und ich bin nicht dagewesen, dich zu trösten in deinem Kummer. Mußte vor Dünkirchen kreuzen derweilen, die Freibeuter in den Grund zu bohren; – o es ist hart, Myga, und doch – doch konnt ich nicht anders und heut abend auch nicht. Das edle Vaterland hochzuhalten, soll jeder sein Leben dransetzen; – ach Myga, Myga, lieb mich noch ein wenig, trotzdem daß ich dir ein so schlechter Schutz und Schirm bin. Der arme Vater Michael –«
»Laß den toten Vater, Jan! Ihm ist wohl, er hat Ruhe und braucht niemanden mehr zu fürchten – ach, man muß die Gestorbenen wohl beneiden in dieser blutigen, schrecklichen Zeit!«
»O Myga, sprich nicht so. Ein Elend ist's freilich wohl, daß der Vater starb; aber – nun bist du ja ganz mein! Nun kannst du ja mit mir gehen nach Amsterdam, nun fesselt dich nichts mehr in diesem armen Antwerpen. Myga, tröst dein Herz, wir sehen doch noch fröhliche Tage, meine süße, süße Braut.
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