Wie alt ist sie denn?«
»Ihr Äußeres ist nicht so besonders einnehmend.« Sir John hüstelte verlegen. »Aber das ist schließlich auch nicht die Hauptsache. Nun setz dich, alter Freund, ich habe viel mit dir zu besprechen. Es handelt sich um den Fall Stuart . . .« Er hielt Larry sein Zigarettenetui hin. »Erst gestern haben wir herausgefunden, daß Stuart ein sehr reicher Mann war. Seit neun Monaten hielt er sich in London auf und wohnte während dieser ganzen Zeit in der Pension Marlybone am Nottingham Place. Er muß ein rätselhafter Mensch gewesen sein, ging nirgendshin, hatte fast keine Freunde und war außerordentlich zurückhaltend. Nur seine Londoner Bankiers wußten über seine Vermögensverhältnisse Bescheid, jedenfalls stammen von ihnen die Informationen, die wir bis jetzt erhalten konnten.«
»Was meinst du damit - er ging nirgendshin? Er blieb doch nicht die ganze Zeit in seinem Pensionszimmer?«
»Darauf komme ich jetzt«, erwiderte John Hason. »Er ging aus, aber kein Mensch weiß, warum. Jeden Nachmittag ohne Ausnahme machte er eine Autofahrt, immer mit dem gleichen Ziel - ein kleines Dorf in Kent, ungefähr vierzig Kilometer von hier. Er ließ den Wagen am Dorfeingang warten und verschwand in dem Kaff. Unsere Nachforschungen ergaben, daß er sich lange Zeit in der Kirche aufhielt, ein altes Gebäude aus der Zeit der Saxonen, dessen Fundamente vor etwa tausend Jahren gelegt wurden. Genau nach zwei Stunden, pünktlich wie eine Uhr, kam er zurück, stieg in den Wagen, es war ein Taxi, und fuhr nach Nottingham Place zurück.«
»Wie heißt das Dorf?«
»Beverley Manor. Also weiter - am Mittwoch abend nahm er, entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten, die Einladung eines gewissen Doktor Stephen Judd zur Uraufführung einer neuen Revue im Macready-Theater an. Doktor Judd ist leitender Direktor der Greenwich-Versicherungsgesellschaft und genießt in der City einen guten Ruf. Er ist Kunstliebhaber und Besitzer eines schönen Hauses in Chelsea. Judd hatte für die Aufführung eine Loge bestellt, und zwar Loge A. Nebenbei bemerkt, nach den Zeitungen zu urteilen muß das Stück fürchterlich schlecht sein. Stuart kam also, war jedoch, wie Judd aussagte, auffallend unruhig. In der Pause zwischen dem zweiten und dritten Akt verschwand er unbemerkt aus dem Theater und kam nicht mehr zurück. Gegen Morgen fand man die Leiche an der Themse.«
»Wie war das Wetter in der Nacht?« fragte Larry.
»Anfangs klar, dann aber dunstig mit Nebelbildung. Der Wachtmeister des zuständigen Reviers hat in seinem Bericht erwähnt, daß zwischen halb vier und halb fünf sehr dichter Nebel war.«
»Besteht vielleicht die Möglichkeit, daß er im Nebel den Weg verfehlt hat und in den Fluß gefallen ist?«
»Gänzlich ausgeschlossen«, versicherte Sir John entschieden. »Bis halb drei Uhr morgens war der Kai nebelfrei, eine klare Nacht, er hätte gesehen werden müssen. Es kommt aber noch ein merkwürdiger Umstand hinzu. Als er gefunden wurde, lag er auf den Stufen, nur die Füße hingen im Wasser - und die Flut war noch im Steigen.«
Larry sah ihn erstaunt an.
»Willst du damit sagen, daß er überhaupt nicht angeschwemmt worden ist? Natürlich, wie sollte er auch bei Ebbe auf die Stufen gekommen sein, nur mit den Füßen im Wasser, noch dazu, wenn die Flut erst wieder zu steigen begann?« »Das sage ich ja auch. Er müßte unmittelbar nach Verlassen des Theaters ertrunken sein, als die Flut am höchsten stand, denn nachher, als sie fiel, bis zum Tagesanbruch, als er gefunden wurde, konnte er, wie du sagst, schwerlich auf den Stufen angeschwemmt worden sein.«
Larry rieb sich nachdenklich das Kinn.
»Besteht kein Zweifel, daß er ertrunken ist?«
»Nicht der geringste.« Der Kommissar zog ein Schubfach auf und nahm eine kleine Schale heraus, in der verschiedene Gegenstände lagen. »Das haben wir in seinen Taschen gefunden, Uhr und Kette, ein Zigarettenetui und diesen Streifen Papier.«
Larry nahm das braune, zusammengerollte Papier auf, es war etwa drei Zentimeter lang und noch feucht.
»Es steht nichts drauf«, sagte Sir John. »Als man mir die Sachen brachte, habe ich das Papier aufgewickelt, aber für die genauere Untersuchung gleich wieder zusammengerollt.«
Larry betrachtete die Uhr, eine einfache, goldene Uhr mit Sprungdeckel.
»Nichts.« Er schnappte den Deckel wieder zu.
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