Außerdem bin ich zwei Jahre Krankenschwester in einer Blindenanstalt gewesen.«
Larry überschlug, wie jung sie gewesen sein mußte, als sie anfing, für ihren Lebensunterhalt zu arbeiten. Er schätzte sie auf einundzwanzig, glaubte aber, damit reichlich hoch gegriffen zu haben.
»Gefällt Ihnen die Arbeit hier?«
»Sehr gut. Aber ich halte Sie vom Diktat ab, Mr. Holt! Wir sind bei der Uhr stehengeblieben.«
Er kicherte und nahm seine Untersuchung wieder auf.
»Kette aus Platin und Gold, achtunzwanzig Zentimeter lang, Sperring an einem Ende mit goldener Bleistifthülse - ich nehme wenigstens an, es ist Gold. Der Bleistift ist nicht gefunden worden?«
»Nein. Ich habe den Sergeanten, der die Sachen gebracht hat, noch extra danach gefragt.«
»Haben Sie denn das bemerkt?«
»Natürlich ist es mir aufgefallen. Und das Messer ist ja auch nicht mehr da.«
»Was für ein Messer?« fragte er ziemlich perplex.
»Ich nahm wenigstens an, daß es ein Messer gewesen sein könnte. Es sind ja zwei Ringe am Kettenende, ein größerer und ein kleiner. Am größeren ist die Hülse befestigt, am kleinen könnte ein goldenes Taschenmesserchen gehangen haben, wie ältere Herren es manchmal an der Uhrkette haben. Der kleine Ring ist übrigens gebrochen, ich habe ihn nur etwas zusammengebogen. Es sah aus, als ob sie das Messerchen, wenn es eines war, mit Gewalt abgezwängt hätten.«
»Wer ›sie‹?«
»Wer immer Stuart ermordet hat«, antwortete sie ruhig.
Er nahm die Uhrkette wieder auf. Jetzt erst sah er den zweiten, kleineren Ring und wunderte sich, daß er ihn nicht selbst entdeckt hatte.
»Ich glaube, Sie haben recht. Man sieht auch deutlich Kratzer an den Kettengliedern, da wo das Messer vermutlich abgedreht wurde. Hm!« Er legte die Kette in die Schale zurück und blickte auf seine eigene Uhr. »Haben Sie die anderen Gegenstände auch untersucht?«
»Nur die Uhr und die Kette.«
»Wir wollen die Untersuchung unterbrechen, bis ich zurückkomme. Ich muß noch jemand aufsuchen.« Er zeigte auf einen Wandschrank. »Ist der leer?«
Er schloß die Schale in den Schrank und übergab den Schlüssel Miss Ward.
4
Flimmer-Fred hatte den Bahnhof zwar als erster und in großer Eile verlassen - draußen jedoch blieb er stehen und wartete, bis er Larrys Taxi vorbeifahren sah.
Es lag ihm daran, gerade an diesem Abend unbehelligt zu bleiben. Außerdem hatte er tiefen Respekt vor dem Scharfsinn Larry Holts. Wo immer in Europa Hochstapler sich trafen, waren sie sich mindestens in einem Punkt einig, daß sie nämlich Larry Holt am liebsten am jenseitigen Ufer des Styx gesehen hätten. Sie sprachen dann allerdings nicht vom ›Ufer des Styx‹, sondern schlichter und direkter von der - Hölle. Die unerschütterliche Beharrlichkeit dieses Mannes, wenn er eine Spur aufnahm, war allgemein bekannt und gefürchtet. Und Fred hatte mehr als jeder andere Veranlassung, vor ihm auf der Hut zu sein.
Nach Larrys Abfahrt wartete er noch zehn Minuten, gab seinen Handkoffer bei der Gepäckaufbewahrung ab und verließ den Bahnhof durch einen Nebenausgang. Er nahm das erste dort wartende Taxi und gelangte zehn Minuten später auf einen der ruhigsten Plätze in Bloomsbury, an dem sich eine Reihe von Anwaltsbüros befand. Vor einem schmalen, hohen Gebäude stieg er aus. Als er in die Halle trat, sah ihn der Portier skeptisch an.
»Die Büros sind schon seit Stunden geschlossen, Sir. Sie werden erst morgen früh um neun Uhr wieder geöffnet.«
»Ist Doktor Judd noch da?« fragte Flimmer-Fred und schob seine Zigarre von einem Mundwinkel in den anderen.
Der Portier zögerte einen Augenblick.
»Mr. Judd arbeitet noch, aber ich glaube nicht, daß er gestört werden möchte.«
»So, Sie glauben das nicht? Sagen Sie dem Herrn, daß Mr. Walter Smith ihn zu sprechen wünscht. Merken Sie sich - Smith, ein ungewöhnlicher Name!« schloß er jovial.
»Ich werde bloß Unannehmlichkeiten haben«, brummte der Portier und griff nach dem Telefonhörer. Nach einem kurzen Gespräch legte er wieder auf.
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