Die toten Seelen: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Nikolai Gogol

Die toten Seelen

Aus dem Russischen von Hermann Röhl

Mit den Werkbeiträgen aus Kindlers Literatur Lexikon.

Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur.

Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK.

Erster Teil

Erstes Kapitel

In den Torweg des Gasthauses der Gouvernementsstadt N. fuhr eine ziemlich hübsche, mit Federn versehene kleine Britschke hinein, ein Wagen von der Art, wie ihn Junggesellen zu benutzen pflegen: Oberstleutnants a.D., Stabskapitäne, Gutsbesitzer, deren Besitz an Bauern nur etwa hundert Seelen beträgt, kurz, lauter Leute, die man Herren zweiten Ranges nennt. In der Britschke saß ein Herr, der nicht gerade schön war, aber auch kein häßliches Äußeres hatte; er war nicht zu dick und nicht zu dünn; man konnte ihn nicht eigentlich alt nennen, indes war er auch nicht allzu jung. Seine Ankunft erregte in der Stadt gar kein Aufsehen und war von keinen besonderen Ereignissen begleitet; nur zwei russische Bauern, die an der Tür der dem Gasthofe gegenüberliegenden Schenke standen, machten ein paar Bemerkungen, die sich übrigens mehr auf den Wagen als auf den Darinsitzenden bezogen. »Sieh mal«, sagte der eine zum andern, »was das für ein Rad ist! Was meinst du, kommt das heil hin, wenn die Reise bis nach Moskau geht, oder nicht?« – »Es wird schon hinkommen«, antwortete der andere. – »Aber nach Kasan, glaube ich, wird es nicht hinkommen?« – »Nein, nach Kasan wohl nicht«, antwortete der andere. Damit schloß das Gespräch. Und außerdem war noch, als die Britschke sich dem Gasthofe näherte, ein junger Mann vorbeigekommen, in weißen, sehr engen, kurzen Leinwandhosen, in einem modernen Frack, der das Chemisett sehen ließ, in welchem eine Tulaer Nadel mit einer kleinen bronzenen Pistole als Kopf steckte. Der junge Mann hatte sich zurückgewandt, die Equipage gemustert, mit der Hand seine Mütze festgehalten, die ihm beinah im Winde wegflog, und dann seinen Weg fortgesetzt.

Als der Wagen auf den Hof fuhr, wurde der Herr von dem Kellner empfangen, einem so lebendigen, beweglichen Menschen, daß man nicht einmal ordentlich erkennen konnte, was er für ein Gesicht hatte. Er kam hurtig mit der Serviette in der Hand herausgelaufen, eine lange Gestalt in einem langen, baumwollenen Oberrocke, dessen Taille fast im Genick saß, schüttelte sich die Haare zurück und führte den Herrn flink nach oben und dort den ganzen hölzernen Korridor entlang, um ihm das Zimmer zu zeigen, das ihm Gott beschieden hatte. Das Zimmer war von der bekannten Art; denn das Gasthaus war ebenfalls von der bekannten Art, d.h. genau so, wie die Gasthäuser in Gouvernementsstädten beschaffen zu sein pflegen, wo die Reisenden für zwei Rubel pro Tag ein ruhiges Zimmer bekommen, ein Zimmer mit Schaben, die wie getrocknete Pflaumen aus allen Winkeln hervorgucken, und mit einer immer durch eine Kommode zugestellten Tür nach dem anstoßenden Zimmer, wo der Nachbar haust, ein schweigsamer, ruhiger, aber außerordentlich neugieriger Mensch, der sich dafür interessiert, die Angelegenheiten eines anderen Reisenden bis auf die geringsten Kleinigkeiten kennenzulernen. Die äußere Fassade des Gasthauses entsprach seinem Innern: sie war sehr lang und hatte zwei Stockwerke; das untere ermangelte des Kalkbewurfes; man hatte an den dunkelroten Ziegelsteinen nichts weiter gemacht, und diese, an sich schon von schmutziger Farbe, waren durch die argen Unbilden der Witterung noch dunkler geworden. Das obere Stockwerk war mit der ewigen gelben Farbe angestrichen; unten befanden sich Läden mit Kumten, Stricken und Lammfellen. In einem dieser Läden, und zwar in einem an der Ecke gelegenen oder, richtiger gesagt, im Fenster hatte sich ein Sbitenverkäufer[1]   etabliert, mit einem Samowar aus rotem Kupfer und einem Gesichte, das ebenso rot war wie der Samowar, so daß man aus der Entfernung glauben konnte, es ständen auf dem Fensterbrette zwei Samoware, wenn nicht der eine Samowar einen pechschwarzen Bart gehabt hätte.

Während der angekommene Herr sein Zimmer besah, wurden seine Sachen hereingetragen: vor allem ein weißer Lederkoffer, der schon etwas abgescheuert war, so daß man sah, er war nicht zum erstenmal auf Reisen. Das Hereintragen des Koffers besorgten der Kutscher Selifan, ein Mensch von kleiner Statur in einem kleinen Schafpelze, und der Diener Petruschka, ein Bursche von etwa dreißig Jahren, in einem weiten, abgetragenen Oberrock, den vorher offenbar sein Herr getragen hatte, ein Bursche mit etwas mürrischer Miene und sehr dicken Lippen und sehr dicker Nase. Nach dem Koffer wurde ein kleines Mahagonikästchen hereingetragen, mit einer eingelegten Einfassung von karelischem Birkenholz, ferner Stiefelhölzer und ein in blaues Papier eingeschlagenes gebratenes Huhn. Als all dies hereingetragen war, begab sich der Kutscher Selifan in den Stall, um für die Pferde zu sorgen; der Diener Petruschka aber richtete sich in einem kleinen Vorzimmer ein, einem sehr dunklen Hundeställchen, wohin er bereits seinen Mantel und zugleich einen ihm eigenen Geruch gebracht hatte; dieser Geruch haftete auch an einem Sacke mit allerlei für einen Diener unentbehrlichen Toilettegegenständen, den er demnächst hereintrug. In diesem Hundeställchen stellte er an der Wand ein schmales, dreibeiniges Bett auf, in das er ein kleines Ding hineinlegte, das einige Ähnlichkeit mit einer Matratze hatte; es war plattgedrückt und flach wie ein Fladen und vielleicht ebenso fettig wie der Fladen, den er schon von dem Gastwirte glücklich ergattert hatte.

Während die beiden Diener sich einrichteten und alles Nötige besorgten, begab sich der Herr in die Gaststube. Wie diese Gaststuben aussehen, das weiß jeder Reisende sehr genau: hier waren dieselben mit Ölfarbe gestrichenen Wände, die oben von dem Pfeifenqualm dunkel geworden und unten von den Rücken der verschiedenen Reisenden glänzend poliert waren, noch mehr aber von den Rücken der einheimischen Kaufleute; denn die Kaufleute kamen an Geschäftstagen in Gruppen von sechs und sieben Personen hierher, um ihre bestimmte Portion Tee zu trinken; derselbe verräucherte Plafond; derselbe verräucherte Kronleuchter mit einer Menge daranhängender Glaststückchen, die jedesmal hüpften und klingelten, wenn der Kellner über die abgetretenen Wachstuchläufer lief und kühn das Präsentierbrett schwenkte, auf dem eine solche Unmenge von Teetassen Platz gefunden hatte wie Vögel am Ufer des Meeres; dieselben in Öl gemalten Bilder an allen Wänden: kurz, es war hier genau so wie überall; allerdings fanden sich auch unterscheidende Eigentümlichkeiten: so war auf einem Bilde eine Nymphe mit so gewaltigen Brüsten dargestellt, wie sie der Leser gewiß noch nie gesehen hat. Ähnliche Spiele der Natur kommen übrigens auch auf allerlei historischen Bildern vor, von denen man nicht weiß, wann und woher und von wem sie zu uns nach Rußland eingeführt worden sind; manche sind allerdings sogar von unseren kunstliebenden hohen Herren eingeführt worden, die sie in Italien auf den Rat der sie begleitenden Kuriere gekauft haben. Unser Held nahm die Mütze ab und wickelte sich den wollenen, regenbogenfarbigen Schal vom Halse; solche Schals pflegen den Ehemännern die Gattinnen eigenhändig anzufertigen und geben denselben dann auch passende Verhaltungsmaßregeln, wie sie sich darin einwickeln müssen; wer sie aber für die Hagestolze macht, das kann ich nicht mit Sicherheit sagen; Gott mag’s wissen; ich habe solche Schals nie getragen. Nachdem der Herr sich den Schal abgewickelt hatte, ließ er sich ein Mittagessen geben. Während ihm die verschiedenen in Gasthäusern üblichen Gerichte serviert wurden, nämlich: Kohlsuppe mit Blätterpastete, welche letztere expreß für die Reisenden mehrere Wochen lang aufgehoben wird, Gehirn mit kleinen Erbsen, Bratwurst mit Kohl, gebratene Poularde mit Salzgurken und den ewigen Blätterpasteten, die immer aushelfen müssen, – während ihm also all dies teils aufgewärmt, teils geradezu kalt serviert wurde, veranlaßte er den Kellner, alles mögliche Zeug zu erzählen: wer das Gasthaus früher besessen habe, und wer es jetzt besitze, und ob es viel einbringe, und ob ihr Herr eine arge Kanaille sei, auf welche letztere Frage der Kellner wie gewöhnlich antwortete: »Oh, er ist ein furchtbarer Gauner, mein Herr!« Wie in dem aufgeklärten Westeuropa, so gibt es auch in dem aufgeklärten Rußland jetzt sehr viele achtbare Leute, die in einem Gasthause nicht speisen können, ohne mit dem Kellner zu reden und manchmal sogar ein paar vergnügliche Späßchen über ihn zu machen. Übrigens stellte dieser Reisende nicht lauter leere Fragen, sondern erkundigte sich mit großer Genauigkeit, wer in der Stadt der Gouverneur sei, wer der Gerichtspräsident, wer der Staatsanwalt, kurz, er ließ keinen einzigen bedeutenden Beamten aus; mit noch größerer Genauigkeit, ja mit besonders lebhaftem Interesse fragte er nach allen bedeutenden Gutsbesitzern: wieviel Seelen ein jeder habe, wie weit er von der Stadt entfernt wohne, sogar was er für einen Charakter habe, und wie oft er in die Stadt komme; er erkundigte sich aufmerksam nach dem Zustande der Gegend: ob es in ihrem Gouvernement keine schlimmen Krankheiten gegeben habe, Epidemien, tödlich verlaufende Fieber, Pocken und dergleichen; und nach allem fragte er mit einer Genauigkeit, die auf mehr als bloße Neugierde schließen ließ. In seinen Manieren hatte der Herr etwas Gesetztes und schneuzte sich außerordentlich laut. Es war nicht zu erkennen, wie er das eigentlich anstellte, aber seine Nase tönte wie eine Trompete. Diese anscheinend ganz unschuldige Eigenschaft erwarb ihm indes in hohem Grade die Achtung des Kellners, so daß dieser jedesmal, wenn er den betreffenden Ton hörte, seine Haare zurückwarf, sich respektvoll geraderichtete und, von seiner Höhe den Kopf herabbiegend, fragte, ob etwas gefällig sei.

Nach dem Mittagessen trank der Herr eine Tasse Kaffee und setzte sich auf das Sofa, wobei er sich ein Kissen hinter den Rücken schob, das, wie in russischen Gasthäusern üblich, statt mit elastischer Wolle mit etwas gestopft war, was mit Ziegeln und Kieselsteinen die größte Ähnlichkeit hatte. Hier begann er zu gähnen und ließ sich daher auf sein Zimmer führen, wo er sich hinlegte und zwei Stunden schlief. Nachdem er sich auf diese Weise erholt hatte, schrieb er, der Bitte des Kellners nachkommend, auf ein Stück Papier seinen Rang, Vornamen und Familiennamen, damit dies gebührendermaßen der Polizei mitgeteilt werde. Während der Kellner die Treppe hinunterstieg, las er auf dem Zettel buchstabierend folgendes: »Kollegienrat Pawel Iwanowitsch Tschitschikow, Gutsbesitzer, in eigenen Angelegenheiten.«

Während der Kellner immer noch an dem Zettel herumbuchstabierte, ging Pawel Iwanowitsch Tschitschikow selbst aus, um sich die Stadt anzusehen.