Die unsichtbare Loge

Jean Paul

Die unsichtbare Loge

 

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Jean Paul

Die unsichtbare Loge

Eine Lebensbeschreibung

 

Motto

 

Der Mensch ist der große Gedankenstrich im Buche der Natur

 

Auswahl aus des Teufels Papieren

 

 

 

Erster Teil

 

Entschuldigung

bei den Lesern der sämtlichen Werke in Beziehung auf die unsichtbare Loge

 

Ungeachtet meiner Aussichten und Versprechungen bleibt sie doch eine geborne Ruine. Vor dreißig Jahren hätte ich das Ende mit allem Feuer des Anfangs geben können, aber das Alter kann nicht ausbauen, nur ausflicken, was die kühne Jugend aufgeführt. Ja man setze sogar alle Kräfte des Schaffens ungeschwächt, so erscheinen ihnen doch nicht mehr die vorigen Begebenheiten, Verwicklungen und Empfindungen des Fortsetzens wert. Sogar in Schillers Don Carlos hört man daher zwei Zeiten und zwei Stimmen. –

Noch ein Werk, die biographischen Belustigungen unter der Hirnschale einer Riesin, steht in der Reihe dieser Sammlung ohne Dach und Baurede da – aber es ist auch das letzte; – und sind denn zwei unausgebaute Häuserchen so gar schwer zu verzeihen in einem Korso von Gebäuden aller Art – von Gartenhäusern – großen Sakristeien, wenn auch ohne Kirchen – Irren- und Rathäusern – kleinen Hörsälen – vier Pfählen – Dachstuben – Erkern – und italienischen Kellern? – Wenn man nun fragt, warum ein Werk nicht vollendet worden, so ist es noch gut, wenn man nur nicht fragt, warum es angefangen. Welches Leben in der Welt sehen wir denn nicht unterbrochen? Und wenn wir uns beklagen, daß ein unvollendet gebliebener Roman uns gar nicht berichtet, was aus Kunzens zweiter Liebschaft und Elsens Verzweiflung darüber geworden, und wie sich Hans aus den Klauen des Landrichters und Faust aus den Klauen des Mephistopheles gerettet hat – so tröste man sich damit, daß der Mensch rund herum in seiner Gegenwart nichts sieht als Knoten, – und erst hinter seinem Grabe liegen die Auflösungen; – und die ganze Weltgeschichte ist ihm ein unvollendeter Roman. –

 

Baireuth, im Oktober 1825.

 

Jean Paul Friedrich Richter.

 

Vorrede zur zweiten Auflage

 

Wer einigen wohlwollenden Anteil an den kleinen Haus-, ja Studierstubenfesten der Schriftsteller nimmt: der läuft gewiß ihre Vorreden zu zweiten Auflagen mit Vergnügen durch; denn in diesen feiern sie ihr Buch-Jubiläum und haben darin fast nichts zu sagen als das Angenehmste, nämlich von sich. Wenn der Schriftsteller in der Vorrede zur Probier-Auflage sich so gar matt und scheu handhaben muß und aus weit getriebner und doch unentbehrlicher Bescheidenheit so viele Besorgnisse und Zweifel (sie betreffen seine Gaben) an den Tag zu legen hat: wieviel ungebundner und heiterer geht es dagegen her nach dem Übergange des Jubel-Autors aus der streitenden Kirche der ersten Vorrede in die triumphierende der zweiten, und der Jubilarius bringt sich selber ohne Angst sein Ständchen und sein vivat und vivam!

Gegenwärtiger Schreiber ist auf diesem Bogen selber im Begriffe, zu jubilieren und ein Familienfest mit einem seiner liebsten Kinder – eben dem gegenwärtigen Buche, seinem romantischen Erstling – zu begehen, und redet hier zur zweiten Auflage vor.

– Aber mitten im Feste erwägt er wohl, daß ein Autor wie er auf diese Weise am Ende mehr Vorreden als Bücher macht – z.B. zu einem dreimal aufgegangnen Hesperus drei Vorreden als Morgenröten – und daß folglich beinahe des Redens mehr ist als des Machens. Das Alter spricht ohnehin gern von sich; aber nachteilig genug vermehren sich eben mit den Jahren die neuen Auflagen und mithin die Vorreden dazu, worin man allerlei über sich vorbringt.

Das wenige, was ich hier von mir selber zu sagen habe, beschränkt sich auf das gewöhnliche vorrednerische Eigenlob und auf den als Lobfolie untergelegten Eigentadel.

Stehende Verbesserungen aller meiner Auflagen blieben auch hier die Land- oder Buch-Verweisungen von faulen Tag- oder Sprachdieben oder Wortfremdlingen und die Ausrottung falscher Genitiv-S und Ungs. – Ferner auf allen Blättern, wo es nottat, wurden Lichter und Schatten und Farben gehoben oder vertieft, aber nur schwach; und da bloß meistens in komischen Stellen. Denn wenn ich hätte – um mit dem Lobe fortzufahren – an den ernsten stärken oder ändern wollen, welche die Natur und die Liebe und das Große in uns und über uns malen: so hätt' ich es in meinem spätern Alter nicht zu machen vermocht, indem ich bei jenen Stellen schon Gott danken muß, daß ich sie nur das erste Mal gemacht. Diese Not wird sich erst recht zeigen – so daß ich lieber und leichter nach den vier gedruckten Flegeljahren noch so viele neue, als ich Jahre habe, gäbe –, wenn ich einmal den dritten oder Schlußband dieser Loge bauen muß; und ich wünschte herzlich, irgendein anderer Nachahmer von mir als ich selber übernähme die Last.

Denn die Gründe liegen offen da. Der Verfasser dieses blieb und arbeitete nach den im 19ten Jahre geschriebnen Skizzen noch neun Jahre lang in seiner satirischen Essigfabrik (Rosen- und Honigessig lieferte aus ihr die Auswahl aus des Teufels Papieren), bis er endlich im Dezember 1790 durch das noch etwas honigsauere Leben des Schulmeisterlein Wutz1 den seligen Übertritt in die unsichtbare Loge nahm: so lange also, ein ganzes horazisches Jahrneun hindurch, wurde des Jünglings Herz von der Satire zugesperrt und mußte alles verschlossen sehen, was in ihm selig war und schlug, was wogte und liebte und weinte. Als es sich nun endlich im achtundzwanzigsten Jahre öffnen und lüften durfte: da ergoß es sich leicht und mild wie eine warme überschwellende Wolke unter der Sonne – ich brauchte nur zuzulassen und dem Fließen zuzusehen – und kein Gedanke kam nackt, sondern jeder brachte sein Wort mit und stand in seinem richtigen Wuchse da ohne die Schere der Kunst. Gerade ein lange zugedrücktes übervolles Herz bewahrt in seiner Flut mehr das Richtige und Gemäßigte als ein immer offen gelaßnes, sich leer rinnendes in seiner Ebbe, das Wellensprünge machen muß für die nächste Buchhändlermesse. Ach! man sollte alles Beste, zumal des Gefühls, nur einmal aussprechen! – Die Blüten der Kraftbäume sind schmal und haben nur zwei einfache Farben, die weiße und rote, Unschuld und Scham; hingegen die Blumen auf ihren dünnen Stengeln sind breiter als diese und schminken sich mit brennenden Farben. – Aber jedes erste Gefühl ist ein Morgenstern, der, ohne unterzugehen, bald seinen Zauberschimmer verliert und durch das Blau des Tags verhüllt weiterzieht .....

Ich gerate hier beinahe in dasselbe blumige Unwesen durch Sprechen darüber; aber eben wieder aus der angeführten Ursache, weil ich über die jungfräuliche Kraft und Schönheit, womit frische Gefühle zum ersten Male reden, schon so oft und besonders in Vorreden gesprochen (ich verweise in dieser zur zweiten Auflage der Mumien auf die neueste zur zweiten Auflage der grönländischen Prozesse); und so beweiset sich der Satz schon dadurch, wie er sich ausspricht.

Man wird vielleicht dem Verfasser es nachsehen, daß er seinen ersten Roman zwei Jahre zu früh geschrieben, nämlich schon in seinem 28ten; aber im ganzen, gesteht er selber, sollte man Romane nicht vor dem Jahre schreiben, wo der alte Deutsche seinen spielte und ihn sogleich in Geschichte durch Ehe verwandelte, nämlich im 30ten Jahre. An Richardson, Rousseau, Goethe (nicht im lyrischen Werther, sondern im romantischen Meister), an Fielding und vielen bewährt sich der Satz. – Der Verfasser der unsichtbaren Loge hatte von Lichtenberg so starke Bußpredigten gegen die Menschenunkunde der deutschen Romanschreiber und Dichter gelesen und gegen ihre so große Unwissenheit in Realien ebensowohl als in Personalien, daß er zum Glück den Mut nicht hatte, wenigstens früher als im 28ten Jahre das romantische Wagstück zu übernehmen. Er fürchtete immer, ein Dichter müsse so gut wie ein Maler und Baumeister etwas wissen, wenn auch wenig; ja er müsse (die Sache noch höher getrieben) sogar von Grenzwissenschaften (und freilich umgrenzen alle Wissenschaften die Poesie) manches verstehen, so wie der Maler von Anatomie, von Chemie, Götterlehre und sonst. – Und in der Tat hat sich niemand so stark als Goethe – der unter allen bekannten Dichtern die meisten Grundkenntnisse in sich verknüpft, von der Reichspraxis und Rechtslehre an durch alle Kunststudien hindurch bis zur Berg- und Pflanzen- und jeder Naturwissenschaft hinauf – als den festen und zierlichen Pfeiler des Grundsatzes hingestellt, daß erst ein Dichter, welcher Licht in der einen und andern Sache hat, sich kann hören lassen, so daß sichs hier verhielte mit den Dichtungen wie mit den Pflanzen, welche bei aller Nährung durch Wärme, Feuchte und Luft doch nur Früchte ohne Geschmack und Brennstoff bringen, wenn ihnen das Sonnenlicht gebrach.

Glücklicherweise hat sich freilich seitdem – seit dem eingegangnen Predigtamte Lichtenbergs und anderer Prosaisten – sehr vieles und zwar zum wahren Vorteile der Dichter geändert. Menschenstudien vorzüglich werden ihnen von Kunstverständigen und Leihlesern willig erlassen, weil man dafür desto mehr im Romantischen von ihnen erwartet und fodert. Daher sind sogenannte Charaktere – wie etwa die vorkömmlichen bei Goethe, oder gar bei Shakespeare, ja wie nur bei Lessing – gerade das, wodurch sich die neueren Roman- und Drama-Dichter am wenigsten charakterisieren, sondern es ist ihnen genug – sobald nur sonst gehörige Romantik da ist –, wenn die Charaktere bloß so halb und halb etwa etwas vorstellen, im ganzen aber nichts bedeuten. Ihre Charaktere oder Menschen-Abbilder sind gute Konditor- oder Zuckergebilde und fallen, wie alle Kandis- und Marzipanmänner, sehr unähnlich, ja unförmlich, aber desto süßer aus und zerlaufen mild auf der Zunge. Ihre gezeichneten Köpfe sind gleichsam die Papierzeichen dieser höhern Papiermüller und bedürfen keiner größern Ähnlichkeit mit den Urbildern als die Köpfe der Könige von Preußen und Sachsen auf dem preußischen und sächsischen Konzept-Papiere, die und deren Unähnlichkeit man erst sieht, wenn man einen Bogen gegen das Licht hält. Da nun gerade neue Charaktere so schwer und ihrer nur so wenige zu erschaffen sind, wenn man sich nicht zu einem Shakespeare steigern kann, hingegen neue Geschichten so leicht zu geben, zu deren Zusammensetzungen schon vorgeschriebene Endreime der Willkür die organischen Kügelchen oder den Froschlaich darbieten: so wird durch stehende Wolkengestalten von Charakteren, welche unter dem Anschauen flüssig aus- und einwachsen und sich selber eine Elle zusetzen und abschneiden, dem Dichter unglaubliche Mühe und Zeit, die er fruchtbarer an Begebenheiten verwendet, im Schaffen erspart, und er kann jede Messe mit seinem frischen Reichtum neuer Geschichten und alter Charaktere auftreten; er ist der Koch Andhrimmer (in der nordischen Mythologie) und hat den Kessel Eldhrimmer und kocht das Schwein Sährimmer, das jeden Abend wieder lebendig wird, und bewirtet damit die Helden in Walhalla jeden Tag.

Dieser romantische Geist hat nun in Romanen und Trauerspielen eine Höhe und Vollkommenheit erreicht, über welche hinaus er ohne Selbstverflüchtigung schwerlich zu gehen vermag, und welche man in der ganz gemeinen Sprache unbedenklich schon Tollheit oder Wahnwitz nennen kann, wenn auch nicht in der Kunstsprache. Von den Trauerspielen an des ohnehin nicht verstandreichen Werners bis hinauf zu dem Yngurd und der Albaneserin des verstandüberreichen Müllners regiert ein seltner, luftiger, keines Bodens bedürftiger Wahnwitz die Charaktere und dadurch sogar einen Teil der Geschichte, deren Schauplatz eigentlich im Unendlichen ist, weil verrückte und verrückbare Charaktere jede Handlung, die man will, motivieren und rücken können. Sogar bei den größten Genien anderer Völker und früherer Zeiten sucht man Kunst-Verrückungen und Anamorphosen und Anagrammen des Verstandes, wie z.B. in des gedachten Proselyten Luther oder Attila, umsonst.