Ebenso bücken wir uns am Lebens-Abend an alten Gräbern unsrer frühen Freunde, die niemand bedauert als wir; bis endlich den letzten Greis aus dem liebenden Zirkel ein fremder Jüngling beerdigt; aber keine einzige Seele erinnert sich der schönen Jugend des letzten Greises! –
Am Morgen war er wieder gesund und froh; die Sonne trocknete sein Auge aus, und das Nebelbild seines Genius zog in der Hülle der letzten Nacht sich weit zurück. Es tut mir leid, daß ichs seinen Jahren und seinem Charakter beizumessen habe, daß er, die Abendstunden der schmerzlichsten Sehnsucht ausgenommen, ein wenig zu leicht das Bild eines Freundes durch nähere Bilder in den Hintergrund verschieben ließ. Alle Blumen waren jetzo Spielzeug für ihn, jedes Tier ein Spielkamerad und jeder Mensch ein Vogel Phönix; jede Himmelsveränderung, jeder Sonnenuntergang, jede Minute überschüttete ihn mit Neuigkeiten.
Es war ihm wie vornehmen Kindern, die aufs Land hinauskommen; alles begucken, betasten, bespringen sie in der neuen Erde und dem neuen Himmel. Denn es ist ein unbeschreibliches Glück für stiftfähige Kinder, daß ihre Eltern, die sonst aus der Natur sich wenig machen, sie dennoch zwischen hohen Zimmern und hohen Häusern, die nicht 38 Quadratschuhe vom Himmel sichtbar lassen, wie in Treibgärten mit hohen Mauern erziehen, damit die Natur ihnen so wenig als ihre Eltern unter die Augen komme; dadurch erhält sich ihr Gefühl für beide ebenso unverhärtet über der Erde, als würden sie wirklich unter ihr erzogen; ja sie sehen den Sonnenaufgang zum ersten Male fast noch später als Gustav, – auf der Postkalesche oder in Karlsbad. –
Seine Eltern ließen ihn als einen Neugebornen ungern von der Seite, kaum in den Schloßgarten und nicht zum Berg hinunter, wo ihm die Poststraße gefährlich war. Auch hatt' er aus seiner unterirdischen Schulpforte eine gewisse Verlegenheit mit heraufgebracht, die mittelmäßige Menschen und fast sein Vater für Einfalt nehmen, welche aber höhere Menschen, sobald sie in Gesellschaft eines nicht stieren, sondern überfüllten schwärmerischen Auges wie bei ihm erscheint, für das Ordenkreuz ihres Ordenbruders halten. Gleichwohl bereueten es seine Eltern acht Tage darauf, nicht, ihn eingesperrt, sondern, ihn hinausgelassen zu haben.
Die Obristforstmeisterin von Knör und ein Faszikel Herrnhuter und Herrnhuterinnen waren mit ihr gekommen, den Zögling des Grabes zu hören; ein Grummetschober alter Fräulein hatte schon vier Wochen vorher eingesprochen, und jetzo wieder, um nur ein solches Wunderkind ansichtig zu werden. Die herrnhutischen Brüder waren lebhaft und frei mit Anstand; die Schwestern mauerten sich sämtlich um eine Standuhr, deren Gehäuse mit Engeln als Hornisten gerändert war – sie waren von den Hornisten nicht wegzubringen. Beizubringen war ihnen auch nichts; Maul und Augen machten sie auch nicht auf, und der Rittmeister wurde schwarz vor verhaltenem Ärger. Endlich tippte die Lippe einer Schwester an ein Weinglas, die andern tippten nach – so viel die eine vom Gebacknen abknickte, so viel bröckelten die andern sich zu – ein Zuck regte die ganze obligate Kompagnie dieser auf zwei Füße gestellten Schafe. Der Fräuleinschober hingegen hieb in alles ein; im Flüssigen und Festen war er wie ein Amphibium zu Hause, sie hatten in ihrem kauenden und klappernden Leben nie etwas gereget als die Zunge. – Als nun für so viele Zuschauer das Wundertier her sollte: wars – weg. Alles wurde ausgestöbert, langverlorne Dinge wurden gefunden, in alles hineingeschrien, in jeden Winkel und Busch – kein Gustav! Der Rittmeister, dessen anfangende Betrübnis immer eine Art Zorn war, ließ die ganze sehlustige Schwesterschaft sitzen; die Rittmeisterin aber, deren Betrübnis noch weichere Teile angriff, setzte sich kosend zu ihr. Als aber alle ängstliche, fragende, laufende Gesichter immer trostloser zurückkamen und als man gar hinter dem offnen Schloßtor, wo der Kleine abgerißne Blumen in kleine beschattete Beete steckte, diese noch naß von seinem Begießen fand: so zerknirschte die Verzweiflung die Gesichter der Eltern; »ach der Engel ist gewiß in den Rhein gestürzt«, sagte sie, er aber sagte nichts dagegen. Zu einer andern Zeit hätt' er einen solchen Fehlschluß mit den Füßen zerstampft; denn der Rhein floß eine halbe Stunde vom Schlosse; aber hier schloß in beiden die Angst, die weit tollere Sprünge tut als die Hoffnung. Ich rede hier deswegen von einer andern Zeit, weil mir bekannt ist, wie sonst der Rittmeister war: nämlich aus Mitleiden aufgebracht gegen den Leidenden selber. Niemals z.B. fluchten seine Mienen mehr gegen seine Frau, als wenn sie krank war (und ein einziges schnelles Blutkügelchen stieß sie um) – klagen sollte sie dabei gar nicht – war das, auch nicht seufzen – war auch das, nur keine leidende Miene machen – gehorchte sie, überhaupt gar nicht krank sein. Er hatte die Torheit der müßigen und vornehmen Leute, er wollte stets fröhlich sein.
Hier aber, da einmal sein Glücktopf in Scherben lag, versüßete ein fremder Seufzer seinen eignen und seinen Zorn über die unachtsame Hausdienerschaft und über den dürren Schwester- und Grummetschober.
Als das Kind die Nacht ausblieb und den ganzen Vormittag und als man gar im Walde auf der Kunststraße sein Hütchen antraf: so verwandelten sich die Stiche der Angst in das forteiternde Schmerzen dieser Stichwunden. Gegen keine Gemüterschütterung ist ein guter Gegenbeweis so schwer zu führen als gegen die Angst; ich führe daher gar keinen seit Jahr und Tag, sondern ich gebe ihr das Ärgste, was sie behauptet, sofort willig zu und falle dann bloß die andere Gemütbewegung, die aus dem besorgten Ärgsten kommen kann, mit der Frage an: »Und wenns nun wäre?«
Jeder Fliegenschwamm im Walde wurde breitgetreten und jeder Baumspecht aufgejagt, um den Kopf zum Hut zu finden – aber vergeblich; – und am dritten Tage ging der Rittmeister, dessen Gesicht eine Ätzplatte des Schmerzes war, ohne Absicht zu suchen so vertieft im Walde herum, daß er einen mit Koffern und Bedienten ausgelegten Reisewagen durch das Gebüsch schwerlich hätte fliegen sehen, wenn nicht daraus wie ein Freuden-Donnerschlag die Stimme seines verlorenen Sohnes ihn erschüttert hätte. Er rennt nach, der Wagen schießet voraus, und im Freien sieht er ihn schon hinter seinem Schlosse stäuben. Außer sich kommt er in Schloßhof angestürmt, um nachzusprengen und um es – bleiben zu lassen. Denn oben an der Haustüre stand die in einen Knäul zusammengelaufne Schloß-Genossenschaft schon um den Gustav, die Schloßhunde bellten, ohne einen gescheiten Grund zu haben, und alles sprach und fragte so, daß man gar keine Antwort des Kleinen vernahm. Der vorbeifliegende Wagen hatte ihn ausgesetzt. Am Halse hing in einem schwarzen Bande sein Porträt. Seine Augen waren rot und feucht von den Qualen der Heimsucht. Er erzählte von langen langen Häusern, wofür er Gassen hielt, und von seinem Schwesterchen, das mit ihm gespielet, und vom neuen Hute; es wär' aber keine Seele daraus klug geworden, hätte nicht der Koch eine entfallne Karte zu seinen Füßen erblickt. Diese las der Rittmeister und sah, daß er sie nicht lesen sollte, sondern seine Frau. Er verdolmetschte es aus dem mit weiblicher Hand geschriebenen Italienischen so:
»Kann sich denn eine Mutter bei einer Mutter entschuldigen, daß sie ihr Kind ihr so lang entzogen? Wenn Sie mir auch meinen Fehler nicht vergeben: ich kann ihn doch nicht bereuen. Ich traf Ihren lieben Kleinen vor drei Tagen im Walde irrend an, wo ich ihn in meinen Wagen stahl, um ihn vor schlimmern Dieben zu bewahren und um seine Eltern auszufinden.
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